B-Ball für B-Boys

Auf den Freiplätzen New Yorks treffen zukünftige, aktuelle und ehemalige NBA-Profis auf jene hoffnungsvollen Talente, für die Basketball immer noch der Königsweg aus dem Ghetto ist

In der NBA zu bestehen ist das eine, hier auf der Straße zu bestehen das andere

aus New York SEBASTIAN MOLL

Die 155. Straße zieht sich durch eines der miserabelsten Viertel von Harlem. Der U-Bahn Schacht an der Orange Line in Richtung Bronx entlässt einen zwischen braune Hochhauskästen, den typischen „Projects“ aus der Sozialoffensive der 50er-Jahre, die in New York für hohe Kriminalität und regen Drogenhandel berüchtigt sind. Gegenüber ein Wohnheim für Männer, Endstation für gescheiterte Existenzen. Daneben bietet „Mamma’s Fried Chicken“ ölige frittierte Hühnerteile für einen Dollar an.

Trotzdem kommen Schaulustige aus den ganzen USA hierher. Heute etwa sind zwei Mütter aus Cincinatti, Ohio von ihren halbwüchsigen Söhnen in die 155. Straße geschleppt worden, um den „Rucker“ zu sehen. Der Rucker, das sind die „Holocombe Rucker Basketball Courts“, auf den ersten Blick nicht mehr als zwei Körbe auf einem Asphaltplatz, der von drei Meter hohen Zäunen begrenzt zwischen den deprimierenden Sozialbauten eingezwängt ist. Nicht mehr, so scheint es, als ein trister Spielplatz für Ghettokinder. Für Basketballfans ist der Rucker jedoch eine heilige Stätte. Mittlerweile mythische Geschichten ranken sich um den schlichten Betoncourt. Früher kamen im Sommer sogar NBA-Stars hierher, um sich mit den besten Straßenbasketballern Harlems zu messen. „Kareem Abdul Jabaar war hier, Joe Smith, Kevin Garnett, Jerry Stackhouse, sogar Kobe Bryant“, erinnert sich E. J. Er wird „The Mayor“ genannt, spielt seit 20 Jahren hier und gibt im Juli beim großen Rucker-Turnier den Ansager.

In der NBA zu bestehen war das eine, hier auf der Straße zu bestehen das andere. Erst das adelte einen Basketballstar wirklich. Straßenbasketball, so das Ethos der Szene, ist „the real thing“, der Nährboden allen Basketballspielens, sein Ursprung, sein Sinn, seine Daseinsberechtigung. Hier kommen alle Spieler her und hierhin kehren sie alle irgendwann wieder zurück. Wie die Expros Steve Brunt und Red Brown, die noch immer im Rucker spielen. Deshalb ist Street-Basketball in New York kein Spiel, kein Ausgleichssport, es ist Lebensinhalt, Heimat, Hoffnung.

Wie etwa für den, den sie „Coach“ nennen. Coach ist 53 Jahre alt, seit 1968 spielt er auf der Straße. Jeden Abend, jedes Wochenende. Coach kommt auch aus Harlem, ist in der 117. Straße aufgewachsen, spielt aber seit 30 Jahren Downtown, auf der West Fourth Street. Der Platz dort ist kleiner, alles ist gedrängter als auf dem Rucker, an dem sogar eine kleine Betontribüne Platz hat. An der West Fourth Street ist der Gitterzaun direkt am Spielfeldrand und abends nach Feierabend stehen die Passanten drei, vier Reihen tief an den Zäunen, um die spektakulären Moves des wilden Spieles ohne Schiedsrichter zu bewundern. Coach findet, dass hier auf der West Fourth Street das Spiel ehrlicher ist als auf dem Rucker: „Am Rucker geht es doch nur um Show, das sind alles Clowns.“ Der Rucker, findet Coach, ist eine Touristenattraktion. Hier auf der West Fourth Street werde noch echtes Basketball gespielt. Das möchte er vermitteln und weitergeben an die Jüngeren – was ihm seinen Spitznamen eingebracht hat.

Wie die meisten, die auf der Strasse spielen, wollte auch Coach einmal Profi werden, den Sprung in die NBA schaffen. Basketball ist für Schwarze in amerikanischen Großstädten noch immer der Königsweg aus dem Ghetto. Die Chance, ein Universitätsstipendium zu bekommen und von dort aus, wenn schon keinen Profivertrag, dann zumindest einen Hochschulabschluss mitzunehmen. Es ist der greifbarste, realistischste Weg aus dem Kreislauf von Armut, Gewalt und Drogen. „Basketball – My Anti-Drug“ steht in großen Lettern mitten auf dem Spielfeld des Rucker. Doch Coach schaffte es nicht. Wie die meisten. Er war gut, aber nicht gut genug. Geblieben ist das Straßenbasketball. Hier findet er Anerkennung, weil er mit 53 noch immer zu den Besten gehört. Hier ist er wichtig, weil er versucht, den Jungen zu dem zu verhelfen, was er nicht erreicht hat, in dem er sie trainiert und berät. Sein Job als Koch einer Catering-Firma verschafft ihm derlei Befriedigung und Selbstwertgefühl nicht, die Rolle als Ehemann und Vater von sechs Kindern offenbar auch nicht.

Die Jungen lernen, indem sie früh in den Spielbetrieb integriert werden. Auf dem Rucker spielen am Nachmittag die ganz Kleinen zwischen fünf und zwölf: Ihre Ballsicherheit, ihre Dribblings und ihre Würfe sind Schwindel erregend. Die Körpersprache der B-Boys haben sie ebenfalls bereits intus: Die Hosen können nicht groß genug sein, sie halten gerade eben an der Hüfte und die Unterhose schaut weit heraus, der angezeigte Hook nach einem gelungenen Distanzwurf könnte lässiger von keinem Profi kommen.

Wenn sie in die Pubertät kommen, dürfen sie dann bei den Pick Up Games der Großen nach fünf Uhr mitmachen. Pick Up, das bedeutet zunächst, dass immer die Siegermannschaft auf dem Platz bleibt. Wer mehrmals spielen will, der muss gewinnen. Alles andere funktioniert jedoch nach eigenen Gesetzen, die auf jedem Platz anders sind. An der West Fourth Street etwa wird immer ohne Seitenwechsel bis 16 gespielt. Am Rand sitzt eine Clique von Männern, die das Sagen haben. Ein grauhaariger, etwa 60-Jähriger, ein Dicker mit einem Kopftuch aus Strumpfseide und ein großer, schmaler jüngerer mit dicker Goldkette, den sie „Butter“ nennen. Sie führen eine Liste, erklärt Justin, ein junger Weißer, der als Anwaltsgehilfe arbeitet und der sich immer mal wieder hier auf der West Fourth Street versucht. „Die Jungs oben auf der Liste dürfen ihre Mannschaft aus denen, die weiter unten stehen, auswählen. Manchmal bekommst du überraschend deine Chance“, erklärt Justin, „manchmal wird dein Name aber einfach wieder durchgestrichen.“ Mit Vorrecht derjenigen, die schon lange hier spielen, habe das zu tun, mit Sympathie, mit Kleidung und Auftreten und, ja, auch mit Hautfarbe. „Klar kriegen die Weißen ab und zu mal einen dummen Spruch“, wiegelt Coach ab. „Aber wenn du dir auf dem Platz Respekt verdienst, ist es egal, ob du schwarz, braun, gelb oder weiß bist und welchem Geschlecht du angehörst.“

Trotzdem verirren sich nur wenige mutige Weiße auf Plätze wie den an der West Fourth Street oder den Rucker. Viel besser ist die Quote an der Horatio Street in Greenwich Village, einem großen Platz mit fünf Körben, wo es augenscheinlich nicht um alles geht, wo Basketball mehr Feierabendsport ist und weniger existenziell. „Ich habe keine Angst, gegen die Jungs an der West Fourth Street zu spielen“, meint Steve, ein etwa 30-Jähriger Weißer, der als Barkeeper in Tribeca arbeitet, „aber ich will vor allem spielen und nicht um mein Spielrecht kämpfen.“ Vorher hat Steve an den Chelsea Piers gespielt, einem exklusiven Sportzentrum am Hudson River, das 300 Dollar im Monat kostet und wo Stars wie Puff Daddy und Leonardo di Caprio spielen, von dem Steve sagt, er habe einen „passablen Distanzwurf“. Doch das war ihm auf Dauer zu nobel und zu teuer. Horatio Street ist für ihn der richtige Kompromiss zwischen Palast und Ghetto.

„Die städtischen Spielplätze sind unser Fitnessstudio“, sagt ein erstaunlich austrainierter 60-jähriger Schwarzer an der West Fourth, dem die vordere Zahnreihe weitgehend fehlt. „Mehr brauchen wir nicht.“ Den Jüngeren reicht es allerdings meistens nicht, noch haben sie sich nicht mit dem Ghetto abgefunden: „Ich will aufs College“, sagt Jermaine, ein 1,85 großer, schlaksiger 14-Jähriger, mit einem beängstigenden Dunk, den Coach besonders unter seine Fittiche genommen hat. Jermaine will nicht Koch werden und mit 50 noch zwischen Drahtzaungittern spielen. Doch leider stehen die Chancen, dass genau das passiert, deutlich günstiger als die, dass es anders kommt.