Alle Macht den Räten

Die Bayern grinsen. Sie freuen sich immer, wenn sie der Obrigkeit eins auswischen können

von STEFAN KUZMANY

Von Gesetzen nicht gebunden, ohne Herrn und ohne Staat – frei nur kann die Welt gesunden, Künftige, durch eure Tat! aus: Erich Mühsam, „Gesang der jungen Anarchisten“

Martin wollte Gras kaufen im Englischen Garten in München, Marihuana, wusste aber nicht, dass die Münchner Polizei just an diesem Tag eine Razzia mit Pressebegleitung angesetzt hatte. So wurde Martin, damals 14 Jahre alt, geschnappt, und nicht genug damit: Ein Pressefotograf nutzte die Gelegenheit. Am nächsten Tag war Martin, für jene, die ihn kannten, nur unzureichend von einem schwarzen Balken über den Augen unkenntlich gemacht, auf der Seite 1 des Münchner Boulevardblattes tz zu sehen, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, einer verdienten CSU-Aktivistin: Martin im gebückten Gang, die Hände auf dem Rücken gefesselt und mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

So ein Grinsen kann einem oft begegnen im Freistaat Bayern. Wenn die Nachbarin stolz vom Großvater erzählt, der nach dem Krieg daheim in der Küche Schnaps gebrannt hat, schwarz, zum Verkauf und eigenen Genuß. Wenn die Tante, ebenso stolz, berichtet, wie sie gerade eben alte Schuhe mithilfe eines neuen Kassenzettels erfolgreich umgetauscht hat. Wenn in trauter Runde mal wieder ein kleiner Versicherungsbetrug geplant wird und der Vertreter der zu betrügenden Versicherung praktischerweise gleich selbst mit am Tisch sitzt und hilfreiche Tipps gibt. Wenn Martin, heute 30 Jahre alt, die reiche Ernte seiner eigenen Marihuana-Plantage im Keller eines Reiheneckhauses präsentiert. Wenn der Schatten spendende Baum im Garten, für den das Amt niemals eine Abholzgenehmigung erteilen würde, über Nacht plötzlich verschwunden ist. Die Bayern grinsen. Sie freuen sich immer, wenn sie der Obrigkeit eins auswischen können.

Diese bayerische Renitenz, die Lust daran, sich jeglicher Kontrolle zu entziehen, dieser den Bayern eigene, im Grunde anarchistische Lebensentwurf hat sich in der Geschichte des Freistaates bereits einmal manifestiert. Tatsächlich hatte München einst, wenn auch nur für weniger als eine Woche, eine Arbeiterregierung, die stark von anarchistischen Ideen geprägt war. Zuvor, im Februar 1919, war der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, durch Revolution an die Macht gekommen, von einem adeligen Attentäter, Anton Graf Arco, erschossen worden. Die Folge war allerdings keine Beruhigung, sondern eine weitere Radikalisierung der Arbeiterschaft. Die Arbeiter stürmten den Landtag. In Panik flohen die Abgeordneten. Alle Macht lag nun bei den Arbeiterräten. Doch diese erwiesen sich als unfähig. Im Verborgenen mit den Bürgerlichen im Bunde, betrieb die MSPD (die Mehrheits-SPD) die Ausrufung einer Räterepublik. Sie wusste, dass sie schnell scheitern würde. Gleichzeitig bereiteten führende SPD-Leute von Nürnberg und Bamberg aus die militärische Niederschlagung der Arbeiterregierung vor. Am 7. April 1919 wurde die „Räterepublik Baiern“ ausgerufen. Sie hielt gerade mal sechs Tage. Ihre Führungsriege bot ein trauriges Bild: Gustav Landauer, eigentlich Philosoph und Übersetzer, war Volksbeauftragter für Volksaufklärung und widmete sich vor allem der Verbreitung atheistischer Gedanken. Für die Finanzen zuständig war der Erfinder der Freigeldlehre, Silvio Gesell, der die Abschaffung des Geldes forderte. Außenminister Dr. Lipp telegraphierte wirr an Lenin, ein Flüchtling habe „aus meinem Ministerium den Abortschlüssel mitgenommen“, wurde jedoch alsbald in die Psychiatrie eingewiesen. Ende April war alles verloren: 35.000 Soldaten rückten gegen München vor. Die Köpfe der Revolution wurden gefasst und zum Tode verurteilt. Die SPD, die sich maßgeblich an der Niederschlagung der Räterepublik beteiligt hatte, genießt seither auch deshalb in Bayern kein hohes Ansehen.

Doch auch heute ist der Anarchismus als bayerische Staatsform nicht weit entfernt. Es ist dies der Anarchismus von oben. Am morgigen Sonntag wird die CSU in Bayern wohl rund 60 Prozent der Stimmen erhalten. Dass zwei Drittel der Wählenden für die Christsozialen votieren, sollte aber niemanden zu der Ansicht verleiten, dass die Bayern in übertriebenem Maße staatstreu wären. Eigentlich arbeitet die CSU an der Einführung anarchistischer Verhältnisse mit anderen Mitteln, und das auf zwei Ebenen. Zum einen nach außen: die treffende Selbstcharakterisierung des bayerischen Gemüts mit dem geflügelten Wort „Mei Rua mog i“ gilt auch für die bayerische Staatsregierung. Lief 1986 im bundesdeutschen Fernsehen eine allzu kritische Sendung (der dadurch zu ungeahnter Popularität gekommene „Scheibenwischer“), blendete sich die bayerische Sendeanstalt kurzerhand aus. Werden im fernen Berlin Gesetze beschlossen, die den Bayern nicht passen, nimmt sich der Freistaat immer wieder die Freiheit, einen eigenen, einen Sonderweg zu beschreiten. Abtreibungen in Bayern sollten erschwert werden, indem Arztpraxen, die mehr als 25 Prozent ihrer Einkünfte mit Schwangerschaftsabbrüchen verdienten, ihre Zulassung verlieren. Diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht mittlerweile wieder gekippt. Während sich im ganzen Bundesgebiet Homosexuelle auf dem Standesamt das Jawort geben können, wollten die Bayern Heiratswillige Homos zum Notar schicken, um sie so deutlich von den erwünschten Heteropaaren abzugrenzen. Analog auch der Mechanismus, wenn das Bundesverfassungsgericht beispielsweise beschließt, dass in Klassenzimmern religiöse Symbole nichts zu suchen haben – die Bayern juckt das wenig. Die Kruzifixe hängen immer noch.

Wie regelfern und also anarchistisch eine Zukunft aussieht, auf die die CSU hinarbeitet, erweist sich aber vor allem bei Betrachtung des internen Gebarens der Christsozialen. Schönes Beispiel hierfür ist der Skandal um gekaufte Mitglieder in der Münchner Sektion der Partei. Um parteiinterne Gegner auszuschalten, wurden gezielt Mitglieder gegen Geld angeworben und Aufnahmeanträge zurück datiert. Bei internen Abstimmungen tauchten dann diese Phantommitglieder auf, um die gewünschten Ergebnisse herbeizuführen. Das Phänomen dieser mauschelnden Jungfunktionäre ist nicht neu. Sie haben gut vom Amigosystem der Strauß- und Streibl-Regierungen gelernt: Problemlösung, Interessendurchsetzung betreibt man lieber unter sich.

Auch Anarchisten lehnen Autorität, Herrschaft und Regierungen ab. Sie sind der Auffassung, dass die Organisation des Lebens ohne Autorität besser funktioniert. Durch vermehrte Diskussion und Planung nimmt jeder am Entscheidungsprozess teil. Wenn aber, und bald könnte es soweit sein, auch der letzte Bayer CSU-Mitglied ist, ist die Demokratie, ja der Staat, wie wir ihn kennen, in Bayern hinfällig. Sämtliche Entscheidungen treffen dann die CSU-Ortsverbände. Alle Macht bei diesen Räten.