: Mauersegler
Tempelhof war nicht nur für Westberliner eine Luftbrücke. In den Achtzigern nutzten vor allem polnische Flugzeugentführer den Airport als Fluchtmöglichkeit
VON IZABELA JOPKIEWICZ
Wrocław, Flughafen Szymanow, Juni 1982. Im Morgengrauen besteigt Andrzej Ignaczak die einmotorige Maschine des Typs JAK-12A. Das Sportflugzeug hat der 24-jährige Hobbypilot zuvor mit einem Tarnanstrich versehen. Zusammen mit zwei Kompagnons hatte er auf den Rumpf der JAK zwei rote Sterne gemalt. Mit Wasserfarben, wie sie die polnischen Kinder in der Schule benutzten. Um die Sterne vor dem Regen zu schützen, haben die drei Flugzeugentführer sie mit Lackfarbe überstrichen.
Danach ging alles ganz schnell. Um 4.20 Uhr startet das als Militärmaschine getarnte Sportflugzeug in Breslau. Die Flugüberwachung der Volksrepublik Polen hegte keinen Argwohn, schließlich waren Maschinen des Typs JAK-12A seit Jahren als Verbindungsmaschinen der polnischen Luftwaffe mit der Roten Armee im Einsatz. Nur das Wetter war ungünstig. Die Wolken schwebten zweihundert Meter über der Erde, es regnete. Die Sicht war schlecht, der Pilot hätte fast ein paar Hochspannungsmasten übersehen. Dennoch flog Ignaczak nur fünfzig Meter über dem Erdboden. Er wollte nicht auf den Radarschirmen erscheinen.
„Ich hatte keine Navigationsgeräte zur Verfügung“, erinnert sich Ignaczak heute. „Den Weg zum Berliner Flughafen Tempelhof fand ich dank einer Straßenkarte. Ich war nie zuvor in Berlin gewesen und fürchtete, dass ich Tempelhof mit Schönefeld verwechseln würde.“
Als der Entführer die Berliner Mauer sah, war er am Ziel. Exakt um 6.42 Uhr landete Ignaczak in Berlin-Tempelhof. Auf dem Flughafen wurden die Flüchtlinge sofort von Sicherheitsbeamten umstellt. „Wir warteten eine halbe Stunde, dann kamen einige amerikanische Offiziere, um uns zu verhören. Als sie sahen, dass ich kein sowjetisches Armeemitglied bin, sondern die roten Sterne ein Schwindel waren, haben sie sich fast totgelacht.“ Drei Tage lang dauerten die Verhöre. Das Ergebnis: Die Kidnapper kamen nicht ins Gefängnis, sondern ins Flüchtlingslager.
Flugzeugentführungen in den Westen: Das war in der Volksrepublik Polen vor allem in den Achtzigerjahren eine durchaus nicht unübliche Fluchtmethode. Bis 1987 registrierten die Westberliner Behörden sechzehn Flugzeugentführungen von Polen nach Westberlin. Die meisten von ihnen landeten in Tempelhof, was der polnischen Fluggesellschaft LOT bald den Spitznamen „Landet oft in Tempelhof“ einbrachte.
Andrzej Ignaczak hat seine Tat bis heute nicht bereut: „Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie ich im Polen des Kriegszustands weiterleben sollte. Ich konnte es nicht fassen, wenn ich Soldaten und Panzer auf den Straßen sah. Außerdem wollte ich schon immer beruflich Pilot werden, damals wurde mir keine Chance dazu gegeben.“ Inzwischen ist der 46-Jährige in die Vereinigten Staaten ausgewandert und arbeitet dort als Jetpilot bei der Comair Delta Connection. Sein Arbeitgeber kennt die Umstände, die ihn nach Amerika brachten. Ein Problem hat er damit nicht. In Amerika werden „Cowboys“ wie Ignaczak geliebt.
Doch es waren nicht nur angehende oder ausgebildete Piloten, die in den Achtzigerjahren zu Hijackern geworden waren, sondern auch ganz normale Fluggäste, wie Zdzisław Jakubowski bestätigen kann. Der heute 83-jährige Rentner aus Poznań war von 1971 bis 1975 und dann noch einmal von 1981 bis 1985 stellvertretender Geschäftsführer der LOT in Berlin. In seinen beiden Amtsperioden war er Zeuge von insgesamt sechs Flugzeugentführungen. Die Kidnapper, so Jakubowski, bestiegen die Flugzeuge meist als reguläre Passagiere. Doch anstatt Warschau, Danzig oder Breslau zu erreichen, flogen die Maschinen nach Westberlin.
Jakubowski weiß noch genau, was in Tempelhof passierte, wenn mal wieder ein Flugzeug entführt wurde. „Sobald die Maschine die polnische Grenze zur DDR überflogen hatte, meldete sich die Flugzeugbesatzung beim Kontrollturm in Tempelhof und bat um eine Landegenehmigung.“ Das brachte den Flugbetrieb im Himmel über Berlin gehörig durcheinander. „Die Maschinen, die gerade im Landeanflug waren, mussten in die Warteschleife, weil die entführten Flugzeuge Vorrecht hatten.“
Erst nach der Durchsuchung aller Fluggäste konnte sich der LOT-Vertreter um die Opfer der Entführung kümmern und einen Rückflug nach Polen organisieren. Doch nicht alle, die auf diese Weise nach Westberlin kamen, wollten auch wieder zurück. „In nahezu jeder Maschine“, so Jakubowski, „fanden sich Fluggäste, die sich entschieden, in Westberlin zu bleiben.“
Einer der Hijacker, denen diese Passagiere ihre Freiheit verdankten, war der damals 32-jährige Czesław Kudlek. Kudlek war Kapitän einer AN-24-Maschine der LOT. Eigentlich sollte er von Warschau nach Breslau fliegen. Doch am 12. Februar 1982 entführte sich Kudlek selbst. Mit an Bord waren seine Frau und seine beiden Töchter. Die Frau wusste vom Fluchtplan ihres Mannes.
Ein Flug von Warschau nach Breslau dauerte normalerweise fünfzig Minuten. Auf der Hälfte der Strecke begann Kudlek, seine nichts ahnende Besatzung von der Flucht zu unterrichten. „Den Kopiloten überzeugte ich problemlos“, erinnert er sich. „Der Mechaniker aber zögerte. Er fürchtete, dass uns die Sowjets oder die Ostdeutschen abschießen würden.“ Nachdem ihm Kudlek aber versprochen hatte, dass er sich später als Einzeltäter stellen würde, willigte er ein. Und das, obwohl sich an Bord auch zwei Mitglieder der Miliz befanden. Die waren von den Sicherheitsbehörden eingesetzt worden, nachdem die Durchsuchung der Passagiere auf den Flughäfen keine abschreckende Wirkung gezeitigt hatte.
Kudlek meldete sich sieben Minuten vor der geplanten Landung in Breslau bei der polnischen Flugüberwachung. „Wir sind von einem bewaffneten Mann entführt worden“, ließ er die verdutzten Beamten wissen und erklärt das heute so: „Ich hatte die Hoffnung, dass der Bodendienst denkt, dass der Sicherheitsposten Bescheid weiß.“
Von diesem Zeitpunkt an blieben Kudlek 25 Minuten bis zur Landung in Westberlin. Erwartungsgemäß verweigerten ihm die DDR-Behörden das Einfliegen in den ostdeutschen Luftraum. Um nicht weiter Misstrauen zu erregen, schlug er vor, auf dem Flughafen Schönefeld notzulanden. Daraufhin entschlossen sich die DDR-Behörden, der „entführten Besatzung“ zu helfen. Zwei DDR-MIG-21-Jäger und eine sowjetische MIG-29 eskortierten die entführte Maschine bis zum Berliner Luftraum. Kurz vor dem Flughafen Schönefeld aber drehte Kudlek ab und landete schließlich in Tempelhof.
„An Bord hatte ich zuvor die Stewardess gebeten, den Fluggästen die Auskunft zu geben, dass wir nach Stettin fliegen, weil der Breslauer Flughafen von der Armee abgesperrt wurde. Das erweckte keinen Verdacht, nicht einmal bei den Sicherheitsbeamten an Bord. Es war doch Kriegszustand“, entsinnt sich der Chefpilot.
Erst als die Skyguides nach der Landung die Aufschrift „Tempelhof“ sahen, begannen sie das Cockpit zu stürmen. Czesław Kudlek flüchtete durch das Cockpitdach, um Hilfe zu holen. Die polnischen Sicherheitskräfte wurden schließlich von den Amerikanern überwältigt.
Auch Czesław Kudlek ist heute froh, dass ihm und seiner Familie die Flucht gelang. Schon am 19. Juni 1982 war er vor Gericht vom Vorwurf einer terroristischen Tat freigesprochen worden. Zwei Monate später verließ die Familie Berlin in Richtung New York. Sie wohnte in New Jersey, Kalifornien und schließlich in Texas. Der LOT-Kapitän gab das Fliegen auf und widmete sich fortan der Entwicklung von Computerchips. In Polen war Chester Kudlek, wie er heute heißt, seitdem nicht mehr.
„Das waren wilde Zeiten“, sagt heute Klaus Eisermann über seinen damaligen Job. Vierzig Jahre lang arbeitete Eisermann am Flughafen Tempelhof. Heute ist Klaus Eisermann zwar Rentner, im Einsatz in Tempelhof ist er aber immer noch – als Betreuer der Flughafengesellschaft für Besuchergruppen. Dann erzählt er von der wechselvollen Geschichte des Flughafens und manchmal, wenn ihn einer danach fragt, auch von den Entführungen.
„Der erste Fall war noch vor meiner Zeit“, sagt Eisermann. „Das war ein Militärangehöriger der polnischen Streitkräfte, der mit seiner Frau und seinen zwei Kindern 1963 in einem nagelneuen Flugzeug flog. Das war wohl keine Entführung, sondern eher eine Flucht. Es ist schwer, alle Fälle genau zu klassifizieren.“ Noch schwerer aber war es, auf die Entführungen zu reagieren. „Man wusste ja nicht so richtig, wie groß die Gruppe der Entführer ist. Ist es einer, sind es zehn? Ist es der Flugkapitän?“
Manchmal wird Eisermann dann auch gefragt, warum die polnischen Flugzeugentführer alle nach Tempelhof wollten, und keiner nach Berlin-Tegel. Auf diese Frage hat Eisermann gewartet. „Zum einen hatte Tempelhof schon damals das größte Gebäude Europas“, antwortet er. „Die Piloten haben den Schriftzug ‚Tempelhof‘ gesehen und wussten, sie sind richtig.“
Doch es gab auch noch einen anderen Grund: „Tegel, das waren zur Zeit der alliierten Besatzung die Franzosen. Tempelhof, das war dagegen Amerika. Und Amerika war für die Polen immer ein Ort der Freiheit.“
IZABELA JOPKIEWICZ, 28, arbeitet bei der Gazeta Wyborcza in Danzig und hospitierte jüngst drei Monate als Stipendiatin bei der taz. In dieser Zeit hat sie zahlreichen ehemaligen Flugzeugentführern in die USA hinterhertelefoniert