Provokante Grabungen

„Exilkonsummesse“ im Bunker als heikler Versuch, den Begriff „Heimat“ zu entpolitisieren

Dieses Stück stellt einen komplett in Frage. Zertrümmert alles, was man sich an Identitätsbegriffen angeeignet hatte und attackiert massiv, was den heute 30- bis 40-Jährigen per Erziehung ausgetrieben wurde. Denn wie kommt es, dass man in Maria Magdalena Ludewigs Inszenierung „Exilkonsummesse“ im Bunker unter dem Hamburger Hauptbahnhof plötzlich „Kein schöner Land“ mitsummt?

Schwer zu sagen, ob dies allein der Extremsituation „Bunker“ geschuldet oder ob es nicht auch Resultat eines – heiklen – Kunstgriffs der Regisseurin ist, die in ihrem Stück Suggestion und Politik, Psychologie und Sinnlichkeit vermengt. Und genau dies will Ludewig wohl erzeugen durch ihre Grabungen: eine Neureflexion dessen, was eigene Wurzeln sind, begonnen im entrückten Raum des Bunkers, der so etwas wie eine Tabula rasa ist.

Acht Szenen hat Ludewig zu einer Choreografie verbunden, hat den Pommern-, den Moschee- und einen Knabenchor aus dem nahen Stadtteil St. Georg integriert.

Woher sie kommen, hat sie die Anwohner gefragt; Resultat ist ein psychologisch-soziologischer Parcours, großteils konsequent komponiert.

An der Schleuse beginnt das Stück. „Israel Girl I“ begehrt Einlass nach Europa. Der folgende Dialog mit dem Grenzer offenbart die absurd konstruierte Kausalität europäischer Asylbewerber-Aufnahmepraxis: „Nur, wenn Sie sagen, woher Sie kommen, können Sie hinein“. Ein weit vom akut Politischen losgelöstes Spiel um Identitätsschichten entspinnt sich; schließlich lässt der Grenzer sie doch herein.

Der „Konsumierenden“ begegnet man später; gemütlich hat sie sich‘s gemacht auf ihren flugs okkupierten Plätzen: Sie war definitiv als Erste da! Doch die derbe Komik kippt in Tragik um, wenn die Frau später ziellos vor sich hinmümmelt. Dem autistischen Heldenwahn ist dagegen Philotas verfallen, der durch den recht engen Liegenraum tobt: Die Angst vor Verrat treibt ihn um; nebenbei wird deutsches Heldenpathos durchdekliniert.

Das Pommernlied geleitet einen weiter in einen Raum, der in zwei kontrapunktische Szenen mündet: Hüben die Deklamation der Sündenfall-Geschichte, drüben arabische Musik samt Teppich und Wasserpfeife, die zum Verweilen einlädt. Später erklingen – nach einem Bomben-Werbespot – im Halbdunkel arabische Flötenmelodien.

Starke Bilder, zweifellos. Doch die Regie entscheidet sich nicht zwischen suggestiver Sinnlichkeit und Reflexionstheater, wandelt wohl ganz bewusst auf diesem Grat: Könnte das Flötenrecital nicht eine anders fortgeschriebene Schöpfungsgeschichte sein? Ein Neubeginn, formuliert zunächst im Untergrund, der einzigen Basis für Nachhaltigkeit?

Eine starke Suggestion jedenfalls, die sich beim Beckett-Monolog im Untergeschoss noch verstärkt. Die Suche nach der Sprache betreibt dort eine Ratlose: Wie sie gestalten, eine Schöpfung der koexistierenden Religionen?

Doch man darf nicht verharren im Zustand des kreativen Zweifels: Bald schon rumpelt‘s gewaltig im Bunker, als solle man brutal geweckt werden. So ungefähr muss es sich damals angehört haben – eine Szene, die leicht ins Pathos kippen kann. Schweigend geht man nach oben. Und ist absurd froh, dort mit dem Lied „Wo kommt denn wohl die Elbe her?“ begrüßt zu werden.

Ob es Ludewig gelungen ist, den Begriff „Heimat“ zu entpolitisieren? Und ob es die Zuschauer geschafft haben, Pommernlieder als Ausdruck „reiner Sehnsucht“ (Ludewig) und nicht im Vertriebenen-Kontext zu hören? In jener untergründig-abstrakten Extremsituation zweifellos. Oberirdisch aber wird das ganz schön schwierig werden.

Petra Schellen