Pferde: 2, Männer: 0

Der Medaillenspiegel verstört: Die DDR war doch immer vorne, Hitlers Athleten waren’s sowieso, und selbst das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hätte die BRD abgehängt. Was lehrt uns das?

VON ROBIN ALEXANDER

Olympia ist eigentlich eine feine Sache. Abends gibt es ein spannendes Fernsehprogramm, tagsüber Gesprächsstoff im Büro, und die Höschen der Athletinnen werden auch alle vier Jahre ein bisschen knapper. Das alles ist in seiner netten Harmlosigkeit kaum zu überbieten und wenn Adidas, Nike und Reebok sich daran bucklig verdienen: Bitte sehr. Nur der Medaillenspiegel stört wirklich:

1. USA – 28 Gold, 31 Silber, 24 B.

2. China 25/17/12

3. Australien 16/11/16

4. Russland 15/21/24

5. Japan 15/9/10

6. Deutschland 12/13/15

Das ist der Stand nach 238 von 301 Entscheidungen in Athen. Was sagt uns diese Statistik? Genau: gar nichts. Sind Amerikaner sportlicher als Europäer, wie diese Tabelle nahe zu legen scheint? Nein. Leben Menschen in China (Platz 2) gesünder als in Indien (Platz 50)? Ach was. Sind die Nordkoreaner (Platz 41) glücklicher als die Jamaikaner (Platz 59)? Humbug. Man könnte die Sportler nach Haarfarbe, Blutgruppe oder Schuhgröße sortieren und würde wertvollere Ergebnisse erhalten als bei der Nationenbetrachtung.

Dennoch wird anhand des Medaillenspiegels hemmungslos drauflosinterpretiert. Dieses Jahr herrscht die fixe Idee vor, eine Krise im deutschen Sport spiegle eine allgemeine gesellschaftliche Krise. Das Volk sei träge, und seine Sportler seien’s auch. In Frageform: Warum können Deutsche nicht mehr siegen?

Die Frage birgt schon ihre Antwort: Volk und Athleten muss man gehörig Beine machen, dann steigt das Wirtschaftswachstum wie die Medaillenausbeute. Natürlich ist das Unfug: Früher hatten nur zwei Hand voll europäische Länder Interesse und Voraussetzungen für Turmspringen, Schießen auf die laufende Scheibe und rhythmische Sportgymnastik. Heute gibt es so etwas überall auf der Welt. Und natürlich rekrutieren sich unter annähernd gleichen Bedingungen Olympiasieger öfter aus 1,8 Milliarden Chinesen als aus 80 Millionen Deutschen. In der Globalisierung gehen nationale Vorteile verloren. Eigentlich ist das eine schlichte Einsicht, aber man kann sie natürlich ignorieren und den Sportlern mangelhafte psychische Robustheit oder Faulheit vorwerfen. Warum auch nicht? Wir versuchen ja auch, Arbeitslosigkeit durch Druck auf Arbeitslose zu bekämpfen.

Leider beschränkt sich das Starren auf den Medaillenspiegel mitnichten auf die Leuteschinder von der Industrie und ihre Agenten aus dem politischen Betrieb. Auch im linksliberal-alternativen Milieu wabert die Vorstellung, erreichte gesellschaftliche Veränderungen würden sich in sportlichen Erfolgen niederschlagen. Legendär: Daniel Cohn-Bendit, der die Erfolge der französischen Fußballnationalmannschaft mit der gelungenen Einwanderungspolitik Frankreichs erklärt. An den deutschen Niederlagen sei hingegen eine „verfehlte deutsche Einwanderungspolitik“ schuld. Dumm nur: Als 2004 im deutschen Sturm mit Fredi Bobic, Miroslav Klose, Kevin Kurani und Thomas Podolski erstmals kein Stürmer auflief, der in Deutschland geboren ist, fielen noch weniger Tore. Müssen wir das mit der modernen Einwanderungspolitik jetzt noch einmal überdenken?

Auch für andere gesellschaftliche Entwicklungen muss Spitzensport als Beleg herhalten: Ist die deutsche Misere nicht vor allem eine Krise der emanzipationsgestressten deutschen Männer? Auf die Frauen ist Verlass, hieß es zu Beginn der Athener Spiele. In der Tat, zählt man nur weibliche Triumphe, schaffen wir es im Medaillenspiegel sogar auf Platz 3! Die Auszählung der ersten fünf deutschen Goldmedaillen ergab folgendes, eindeutiges Bild:

Frauen: 5

Männer: 0

Früher galt es als reaktionär, Menschen nach Merkmalen einzuteilen. Aber bitte. Schauen wir noch genauer auf die ersten fünf Siege, dann sehen wir:

Lesben: 2

Pferde: 2

Männer: 0

Ossis: 1

Da wir gerade beim Thema sind: Offenbart die Olympiade, dass doch nicht alles schlecht war in der DDR? Immerhin erreichte der kleine Mauerstaat bei Olympia regelmäßig Platz drei. Im ewigen Medaillenspiegel, der seit 1896 geführt wird, belegt die Deutsche Demokratische Republik, obwohl sie nur 40 von 108 olympischen Jahren existierte, stolz den 7. Platz vor Sportnationen wie China (12.), Spanien (30.) und Böhmen (112.). Die Planwirtschaft hatte ihre Probleme mit Automobilen, Ersatzteilen und tragbarer Bademode, aber die Produktion von Olympiasiegern lief wie am Schnürchen. Das beste deutsche Olympiaergebnis wurde allerdings weder in Erich Honeckers noch in Walter Ulbrichts Verantwortung erreicht: Nie waren Deutschlands Athleten besser als 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin: Mit 33 Gold-, 26 Silber- und 30 Bronzemedaillen belegte Deutschland das einzige Mal in der olympischen Geschichte den ersten Platz im Medaillenspiegel. Der Führer war stolz.

Mit der Wiedervereinigung ist leider auch das einzig Schöne am Medaillenspiegel verloren gegangen: das Ritual der Addition. Bis 1989 war es in deutschen Familien gang und gäbe, dass der Vater die Kinder damit beauftragte, die Medaillen von DDR und BRD zusammenzuzählen, auf dass der Nachwuchs selbst lerne, wo Deutschlands eigentlicher Platz in der Welt sei: nämlich ganz oben.

Daraus ist trotz Wiedervereinigung nichts geworden. Und die Erinnerung an Deutschland in den Grenzen von 1937 (ergäbe 11 Goldmedaillen) oder in den Grenzen von 1941 (ca. 30 Goldmedaillen) oder denen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation (ca. 20 Goldene) ist ja nicht so präsent im Volk. Obwohl: Ein Kollege erzählte vor kurzem von seinem Onkel aus Wien. Der addiert immer Österreich, Ungarn, Teile von Polen, Tschechien, Rumänien, Bosnien und die italienischen Goldmedaillengewinner, die aus der Toskana und der Lombardei kommen. Damit hätte das k. u. k.Reich auch 2004 in Athen die Preußen besiegt.