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Archiv-Artikel

Guter Rauch, böser Rauch

Sars, Malaria, Dengue-Fieber – Krankheiten auf Reisen lauern überall. Sie sind ein gefürchtetes Thema. Und wenn im Ernstfall unterwegs keine moderne Medizin verfügbar ist? Eine Sprechstunde beim traditionellen Heiler im Norden Malis. Den Segen auf der Hand, den Teufel besiegt und ausgeräuchert

VON MICHAEL OBERT

Der Heiler rollt zwei Kolanüsse über meine Schläfen, wiegt sie langsam in der rechten Hand und murmelt leise vor sich hin; dann legt er die Kolas beiseite und berührt meine Nase.

„Er hat das Orakel befragt“, sagt Djibo, der drahtige Mann, der mich mit dem Moped aus Gao im Norden Malis in den Busch gebracht hat, weil es mir nicht gut geht, gar nicht gut. „Der Heiler sagt, Sie erfreuen sich eigentlich bester Gesundheit. Er sagt, Ihr Problem hat einen ganz anderen Grund.“

Der Heiler zieht die Augenbrauen hoch. An ihren äußeren Enden nehmen sie die Form von Widerhaken an. Er sitzt barfuß auf seiner Matte. Sein rechter kleiner Zeh fehlt, der rechte kleine Finger fehlt ebenfalls. Eine schwere Akne hat Narben überall in seinem Gesicht hinterlassen. Die Falten um seine Augen könnten fröhlich wirken, wären da nicht die Augen selbst, riesige schwarze Kugeln, umgeben von einem Geflecht aus blutroten Äderchen.

Der Heiler räuspert sich und spuckt kräftig aus. Ein Junge schleppt sich auf einer Holzkrücke herein. Seine Beine sind dünn und zerbrechlich wie Akaziengeäst. Die Haut ist mit etwas beschmiert, das ich für Kuhdung halte. Der Junge ortet den Auswurf des Heilers an der Hüttenwand, löst das Sekret behutsam vom Lehm und streicht es in eine Kalebasse. „Der Heiler sagt, dass Ihnen jemand Böses will“, fährt Djibo fort, ohne auf die sonderbare Szene einzugehen. „Er hat in den Kolas gesehen, wie Sie schliefen und ein böser Rauch in Ihre Nase kroch. Der Rauch sitzt jetzt in Ihrem Kopf.“

Djibo vertraut dem Heiler. Und ich vertraue Djibo. Immerhin kümmert er sich um mich, seit mich in Gao diese rätselhafte, bleierne Mattigkeit überfallen hat, dieser bohrende Kopfschmerz, die lähmende Nackenstarre. Meine Reise hat vor vier Monaten an der Quelle des Niger begonnen. Seither folge ich dem drittgrößten Fluss Afrikas, um ihn bis zur Mündung in Nigeria zu befahren. Das wird weitere drei Monate dauern, was ich zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht wissen kann. Weiß nur, dass ich mich elend fühle, mich kaum bewegen, nur leise sprechen, nicht klar denken kann.

In Guinea hat mir ein Zauberer einen Fetisch gemacht. Bin heil durch das Rebellengebiet an der Grenze zu Sierra Leone gekommen, Waldelefanten begegnet, einem Flussgott gefolgt, habe Timbuktu gesehen und die Sahara, wie sie gegen den Niger anstürmt. Stromabwärts werde ich an einer traditionellen Flusspferdjagd teilnehmen, den Besessenen vom Nigerbogen begegnen, mit dem Emir von Bussa Tee trinken und Zeuge eines brutalen Mordes sein. Was ich zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht wissen kann. Weiß nur, dass ich mich …

„Der Teufel ist als Rauch in Sie eingedrungen“, sagt Djibo unvermittelt. „Er wird einen Rauch schicken, der ihn wieder hinaustreibt, hinaus aus Ihrem Kopf, Mikael.“ Mein Vorname lässt mich aufschrecken. Mikael – das bin ich. Ich sitze in dieser Hütte, ich bin hier der Patient, und dieser Heiler ist dabei, mich zu behandeln. Etwas drängt mich, die Sache hier zu beenden.

„Keine Angst“, sagt Djibo, als habe er meine Gedanken gelesen.

Habe ich es schon erwähnt? Ich vertraue Djibo. Und ist das nicht eine einzigartige Gelegenheit? Jetzt, wo ich schon mal hier bin? Der Heiler wird schließlich kein Skalpell ansetzen. Was kann schon passieren? Ein wenig Rauch …

Wir einigen uns auf den horrenden Preis von zehntausend Francs CFA. Ich bezahle, und wenig später hocke ich nackt in einer Ecke einer Lehmlatrine, neben mir einen Tonkrug mit schlammgrünem Wasser. Ich wasche mich damit von Kopf bis Fuß, lege mir ein Tuch um die Lenden und kehre in die Hütte zurück. Auf dem Boden liegt eine Metallschaufel auf glühenden Kohlen. Mir bricht der Schweiß aus. Ich zittere. Der Heiler malt mit dem rechten Zeigefinger ein Kreuz auf den Boden; dann zieht er einen Kreis darum, murmelt etwas und spuckt in alle vier Himmelsrichtungen. Der Junge fängt den Speichel geschickt mit der Kalebasse auf.

„Das gandyi hau“, flüstert Djibo und legt mir seinen Mantel um. „Der Heiler bindet den Busch fest, bevor er die Tür zur Anderen Welt öffnet. Er bindet die Unsichtbaren und die Schlechten fest, damit sie uns nicht schaden können.“

Der Heiler beginnt zu singen. Ich nehme an, dass das die Formeln sind, die den bösen Rauch aus meinem Kopf treiben sollen. Er öffnet einen Lederbeutel, schüttet gelbliches Pulver in seine vierfingrige Hand und zerreibt es im Takt der Silben, die er jetzt immer lauter intoniert, bis Djibo plötzlich seinen Mantel über meinen Kopf zieht und mich unsanft hinunterdrückt. Der Heiler streut das Pulver auf die glühende Metallschaufel. Es knistert, zischt. Grauer Rauch füllt die winzige Kammer, die der Mantel um mich herum bildet. Ich schließe instinktiv die Augen, halte die Luft an, atme dann vorsichtig ein, spüre, wie der Rauch in meine Nase kriecht, in Mund und Rachen, wie er in mir brennt, beißt, kratzt. Panik ergreift mich. Ich würge, huste, will schreien, stattdessen stöhne ich, flenne, meine Muskel erschlaffen.

Die Männer halten mich fest, zwingen mich, unter dem Mantel zu bleiben, zwingen mich, den Rauch einzuatmen; dann, endlich, lösen sich ihre Griffe. Ich reiße den Mantel fort und stürze nach draußen. Der Heiler lässt mich nicht aus den Augen, steht unter höchster Spannung, stößt unvermittelt einen Schrei aus und stürzt sich auf mich; er greift vor meinem Gesicht ins Leere, verdreht die Augen, wirft sich zu Boden, wälzt sich, als kämpfe er mit einem unsichtbaren, gefährlichen Tier. Ein lauter Knall lässt mich zusammenzucken. Dann ist es still. Vollkommen still. Eine Stille, wie es sie nur in der Wüste gibt.

„Es ist vorbei“, sagt Djibo leise und legt seine Hand auf meine Schulter. Seine Berührung tut mir gut, bringt mich wieder zu mir. Im Hof lachen alte Männer. Djibo lacht. Der Heiler lacht. Ich sehe an mir hinunter. Stehe in meiner Unterhose in diesem Gehöft, mitten in der Dornensavanne. Meine Knie schlottern. Um mich herum lachen zahnlose Männer. Ich bin sicher, dass man sich einen Spaß mit mir erlaubt hat, jedoch zu erschöpft, um wütend zu sein. Ziehe meine Kleider an und sinke in einen Bambusstuhl.

„Es ist vorbei“, sagt Djibo noch einmal. „Der gute und der böse Rauch. Sie haben gekämpft. Sie haben es gespürt, nicht wahr? Der gute Rauch hat gesiegt. Er hat den Teufel herausgetrieben. Er wollte entkommen, in eine andere Nase, aber der Heiler hat ihn gefangen und vernichtet. Wir sind alle sicher.“

„Sicher“, keuche ich. „Wie fühlen Sie sich? Der Schmerz ist fort, nicht wahr? Der Teufel ist aus Ihrem Kopf. Er ist leicht, nicht wahr?“

Ich muss niesen.

„Das ist der gute Rauch“, lacht Djibo erleichtert. „Er putzt noch die Ecken in Ihrem Kopf aus. In ein paar Stunden ist er verflogen.“

Der Junge mit der Kalebasse hinkt auf seiner Krücke herbei, verrührt den zähflüssigen Speichel, den er während der Zeremonie aufgefangen hat, und streicht ihn in die rechte Hand des Heilers, der sie uns zum Abschied reicht. Sie fühlt sich klebrig und warm an. Djibo reißt ein Stück Stoff von seinem Boubou ab und bandagiert sich die Hand damit. „Der Speichel des Heilers ist kostbar“, sagt er und verknotet den Fetzen. „Er enthält die Kraft der Worte. Waschen Sie Ihre Hand vier Tage nicht. Geben Sie Ihre Hand niemandem, heben Sie Ihre Hand nicht zum Gruß, denn sonst weht der Wind den Segen des Heilers fort.“

Dann fährt Djibo los und knattert über die holprige Piste in Richtung Gao.

„Dieser Junge?“, frage ich mit zittriger Stimme. „Der Junge mit der Kalebasse? Was ist mit ihm?“

„Ich kenne ihn seit seiner Geburt“, ruft Djibo in den heißen Fahrtwind hinein. „Er kam völlig gelähmt zur Welt. Sein Vater ist ein streng gläubiger Muslim. Er brachte ihn ins Krankenhaus und gab ein Vermögen für moderne Medizin aus. Als alles nichts half, hat er seinen Sohn doch zum Heiler getragen.“ „Und der hat ihm eine Medizin gemacht?“

„Die Pflanzenpaste auf seiner Haut“, brüllt Djibo über die Schulter. „Zwei Monate ist das her. Sie haben den Jungen selbst gesehen. Er kann schon wieder gehen.“

Wir biegen auf die Schotterstraße ein, und Djibo schaltet in den vierten Gang. Ich zittere noch immer.

Der Journalist und Autor Michael Obert bereiste den Niger von der Quelle bis zur Mündung. Über das sieben Monate lange Abenteuer ist kürzlich ein Reisebericht erschienen: „Regenzauber. Auf dem Fluss der Götter“. Droemer Verlag, 2004, 489 Seiten, 22,90 €.Ab September ist Obert auf ausgedehnter Lesetour durch Deutschland, Österreich und die Schweiz.Alle Termine und Infos zum Buch im Internet: www.regenzauber.de