„Die Sozialstaatsreformer verhalten sich wie Drogensüchtige“, sagt Albrecht Müller

Sparen und reformieren – das ist das neue ökonomische Dogma. Erfolg hat es nicht. Aber das stört offenbar niemand

taz: Herr Müller, Sie sagen in Ihrem neuen Buch, es sei eine Lüge, dass es zum Reformkurs keine Alternative gebe. Lügt Ihr Parteichef Franz Müntefering? Lügt der Kanzler?

Albrecht Müller: Sie liegen beide zumindest völlig daneben. Denn Hartz IV ist keine Arbeitsmarktreform, sondern soll die Leute motivieren, Arbeit zu suchen. Hartz hilft aber nicht, Arbeitsplätze zu schaffen. Von daher wurde das Thema verfehlt.

Warum sind Sie dann noch in der SPD?

Das fragen Sie wirklich den Falschen. Ich habe mich stets an den Programmen orientiert, die einmal die sozialdemokratischen waren. Dass man gegensteuert, wenn eine Wirtschaft abwärts geht. Clement tut das nicht. Und er vertritt die konservative Pferdeäpfeltheorie, dass man die Besserverdienenden kräftig füttern müsse, damit für die kleinen Spatzen etwas abfällt. Darum sollten Sie eher ihn fragen, ob er nicht besser in die FDP passt.

Aber Parteiprogramme sind für die praktische Politik doch unwichtig. Hat Schröder nicht erkannt, dass der SPD alte Gewissheiten nicht weiterhelfen?

Für Willy Brandt habe ich schon 1972 formuliert: Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen. Einige Dinge müssen sich auch heute ändern. So wächst z. B. die Armut. Mit einer Steuerreform, die besser Verdienende mehr belastet, könnte man gegenhalten. Reformen, die Eltern helfen, Beruf und Familie besser zu verbinden, sind sinnvoll. Ich halte es aber für einen kollektiven Wahn, zu glauben, dass die Wirtschaft angekurbelt wird, wenn man alles von Grund auf verändert.

Das glauben unter anderem die Wirtschaftsexperten.

Also die vernünftigen und unabhängigen glauben das nicht. Die erkennen doch, dass die Begründungen für die Reformen so dünn sind wie Wassersuppe. Von Göring-Eckhart über Merkel zu Clement erzählen alle das Gleiche: Überalterung, Globalisierung und der Zwang zum Sparen.

Sie streiten ab, dass wir uns der Globalisierung und Konkurrenz stellen müssen?

Nein. Aber haben wir denn damit ein Problem? Unsere Exportüberschüsse sind doch schon wieder gestiegen. Die USA hingegen hatten schon im letzten Jahr ein Riesendefizit von über 500 Mrd. Dollar. Die müssten sich offenbar reformieren. Die Stimmung in Deutschland ist mies, und das zu Unrecht. Alle reden von Überalterung, aber niemand sagt z. B., dass die Kinderlasten abnehmen und der Produktivitätszuwachs das so genannte demografische Problem in Luft aufzulösen vermag. Das wird einfach ignoriert. Diese Ignoranz ist ein klares Zeichen, dass wir es mit Propaganda zu tun haben.

Wer macht die Propaganda?

Das ist ein Lügenkartell, hinter dem handfeste Interessen stehen. Die Versicherungsinstitute fördern die Erosion der sozialen Sicherungssysteme. Aus ihrer Sicht ist das logisch, denn dann haben die Privatversicherungen bessere Chancen. Wer agitiert denn für die private Altersvorsorge? Robert Holzmann von der Weltbank zusammen mit dem Internationalen Bankenverband zum Beispiel. Und der frühere Arbeitsminister von Pinochet. Diese Leute müssen die solidarischen Sicherungssysteme schlecht reden, um Reformen durchzudrücken, mit denen sie dann Geld verdienen können.

Klingt nach Verschwörungstheorie.

Wer vor zwei Jahren sagte, die Gründe für den Irakkrieg sind erfunden, galt auch als Verschwörungstheoretiker. Man muss schon recht einfältig sein, um die Interessenwirtschaft nicht zu sehen. Und dennoch machen die Medien fleißig mit. Vor allem der Spiegel hat diesen seltsamen Stimmungswandel gefördert.

Überschätzen Sie das Magazin da nicht etwas?

Nein, denn erstaunlich viele Medien schreiben dort ab. In der Spiegel-Redaktion sitzen doch quasi Drogensüchtige. Die fordern eine Reform, sehen, dass die nicht wirkt. Dann rufen sie sofort nach der nächsten und die Politiker laufen fleißig hinterher. Das liegt auch daran, dass Merkel, Schröder, Clement, Merz oder Eichel keine Ökonomen sind.

Aber deren Fachleute sind welche. Und auch die haben erkannt, dass die Sozialsysteme nicht mehr bezahlbar sind.

Hat die Riesterrente die Sozialversicherung konsolidiert? Und haben Eichels ernsthafte Sparversuche Schulden abgebaut? Seine so genannten Fachleute machen den typischen Denkfehler, ihre private Erfahrung auf die Volkswirtschaft zu übertragen. Wenn Ihre Familie sich entschließt, 500 Euro im Jahr zu sparen, dann schaffen Sie es in der Regel. Sie machen keine Ferien usw. Wenn Eichel das in einer Rezession versucht, dann ruiniert er die Konjunktur, bekommt weniger Steuern und muss mehr für Arbeitslose zahlen.

Was hilft dann weiter, wenn nicht Sparen?

Noch einmal, weil es die deutschen Medien nicht begreifen: Das war doch gar kein Sparen, es war nur ein Sparversuch, der den Konsolidierungserfolg zunichte machte. Ein ganzes Bündel von nachfragefördernden Maßnahmen wie in den USA der 90er könnte helfen, inklusive Konjunkturprogrammen. Auch Frankreich hat uns das seit 1997 vorgemacht. Die haben Geld ausgegeben. Die Konjunktur zog an, die Schulden sanken.

Konjunkturprogramm klingt nach Wirtschaftspolitik der 70er. Die hat uns doch erst diese Krise eingebrockt.

Dieser Unsinn ist die größte Meisterleistung der neoliberalen Chefideologen. Vergleichen Sie doch mal das Wirtschaftswachstum von damals und heute.

Also zurück zu Lafontaine?

Namen sind mir nicht wichtig – obwohl es der Wirtschaft infolge seiner kurzen Zeit als Finanzminister ein wenig besser ging als heute. INTERVIEW: DANIEL SCHULZ