: Die neoliberale Ödnis
Die „soziale Frage“ lebt noch: Birgit Müllers ethnologische Feldforschung im Osten Deutschlands bietet eine umwerfende „Entzauberung der Marktwirtschaft“ – und entdeckt überraschende Qualitäten der Arbeiter aus der DDR
„Hähnchen in Härteofen gegrillt, Eisbein gekocht und Sahne auf dem Bohrwerk geschlagen. Aber es hat niemandem geschadet.“ Fröhlich, Facharbeiter, 16. 6. 91
Jede Gegenwart hat die Eigenart, sich zu verfehlen. Die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ findet so weitgehend ohne die Stimme der abhängig Beschäftigten statt. Viel wird über Werte und Ethik schwadroniert, wenig über Verwertung und Elend geredet. Kein Wallraff des Postindustrialismus ist in Sicht, der hier aufklärt. Birgit Müllers Buch „Die Entzauberung der Marktwirtschaft“ könnte hier eine kleine Abhilfe schaffen. Die Ethnologin hat von 1990 bis 1993 in drei Ostberliner Betrieben umfangreiche Feldstudien vorgenommen. Entstanden ist ein beachtenswertes Buch über die Bewusstseinsgeschichte der abhängig Beschäftigten, eine kleine Detailstudie über die Erfahrungen und die Wünsche der ostdeutschen Arbeiter in dieser Phase der großen Transformation. Das Buch beleuchtet die Zeit vor und nach 1989. Im Zentrum steht der Wandel der Arbeitswelt in der Wahrnehmung der Produzenten. Dieser ungewohnte Blick dementiert manches Vorurteil über die Realität der Planwirtschaft und ihre Akteure.
Heiner Müller bemerkte einmal: Der realsozialistische Mangel brauche den Menschen, im realkapitalistischen Überfluss sei er verzichtbar. Birgit Müllers Buch liest sich über weite Teile wie eine Bestätigung dieser Aussage. Die Planwirtschaft zollte nicht nur der politischen Ideologie Tribut, wenn sie glaubte, auf keinen verzichten zu dürfen. Vielmehr war die ineffiziente Organisation der Produktion das Fundament der Unentbehrlichkeit der Produzenten. Improvisationstalent, Organisationsfähigkeit, handwerkliches Geschick, um die Irrationalitäten der Planung, Zulieferung und Produktion zu umschiffen, waren ebenso gefragt, wie die Beziehungen zwischen den Kopf- und Handarbeitern eine alltägliche Zwangssolidarität prägte.
Der Produzent stand hier im Mittelpunkt: Materialtauschbörsen, paralleles Wirtschaften, die (in)formelle Beschaffung von Investitionsgütern und Ersatzteilen, also der Verstoß gegen den Plan, um den Plan zu erfüllen, erzeugten eine ganz eigene Vorstellung vom Wert der eigenen Arbeit. Bewusstsein und Haltung bildeten sich im Umgang mit den herrschenden Verhältnissen, nicht über deren kritiklose Akzeptanz. Der Kotau vor den Ritualen von Partei und Staat geschah in der „Performance“ auf den Wandtafeln der Betriebe oder im Brigadetagebuch.
Die Wende traf so auf ein Arbeitsbewusstsein, das ebenso um die Schwächen der planwirtschaftlichen Organisation wusste wie um die Stärken des Arbeitsvermögens der unmittelbaren Produzenten. In Verkennung der zukünftigen Verhältnisse begriffen die Arbeitsakteure die Unternehmen daher als „ihre“ Betriebe. Nun sollte der Schlendrian beendet werden, moralische Erneuerung und Transparenz einkehren. Im Privatisierungskonzept der Treuhand war aber weder die Beteiligung der Mitarbeiter am Produktivvermögen noch ihre Mitbestimmung gefragt. Das entfremdete Staatseigentum wurde zum befremdenden Privateigentum, die Herrschaft qua Parteirang zur Macht qua Besitztitel.
Die Zeit der großen Aussprache im Jahr 1990 war so schnell beendet. Die Überführung des Betriebskapitals in Privatbesitz – oft verbunden mit der Mutation der früheren Direktoren zu neuen Betriebsbesitzern – ließ das „schwache Pflänzchen der betrieblichen Demokratie“ nicht wachsen. Birgit Müller überinterpretiert die Möglichkeiten der Belegschaften nicht. Sie macht aber auf die schlichte Tatsache aufmerksam, dass dieser kurze Frühling der Kritik und der Wortergreifung in der Erinnerung der Beteiligten eine bleibende Spur des Enthusiasmus hinterlassen hat.
Nun war ein neues Arbeitssubjekt gefragt. Die Konfrontation von erlerntem Arbeitsvermögen und neuen Anforderungen ist die eigentliche Erfahrungsgeschichte der Wende. Dieser Prozess verläuft vielfältig: Nicht jeder einstmals Oppositionelle wird Freund der neuen Verhältnisse, nicht jeder Parteigänger des Ancien Regime ein Feind der neuen Ordnung. Der individuelle Eigensinn hat hier zwar seinen Platz, aber er bleibt vereinzelt. Jeder ist sich selbst der Nächste und soll es sein – selbst in den neuen Teamzusammenhängen. Das lebendige Arbeitsvermögen findet keinen organisierten Ausdruck, es bleibt bloßes Bewusstsein. Am Ende zählt der Erfolg des Unternehmens. Und, besonders dramatisch: Auch die maximale Anpassung an das wirtschaftlich Unabwendbare garantiert keine Sicherheit.
Es ist eine der verheerendsten Konsequenzen des real existierenden Sozialismus, dass die vermeintlich herrschende Klasse, als sie zu Wort kam, nichts zu sagen hatte. Das weit verbreitete Verständnis von Gerechtigkeit hatte gegenüber der neuen Wirklichkeit von Konkurrenz und Ausgrenzung keine Chance. In den Worten eines Betroffenen: „Bloß weiß ich nicht, was ich dagegen tun kann, ich kann eigentlich nur abwarten und darunter leiden, dass ich es weiß.“
„Entkernung“ – so könnte man den Vorgang nennen, der in den neuen Bundesländern stattgefunden hat. Die Geschichte dieser Habitusrevolution steht noch aus. Sie könnte Aufschluss geben über die Veränderungsfähigkeit von Menschen in Zeiten großer Transformationen. Aber wer hat Interesse an dieser Bestandsaufnahme? Für all die Erfahrungen, die Birgit Müller ausbreitet, interessiert sich niemand: keine Partei, keine Gewerkschaft, keine philanthropische Stiftung. Und wo keine Nachfrage, da kein Angebot. Die „lebendige Leiblichkeit“ der Arbeitskraft besitzt im öffentlichen Bewusstsein keinen Ort mehr. Ihr eine Stimme gegeben zu haben, macht Müllers Studie zu einer unzeitgemäßen Arbeit, konzentriert sich die Erinnerung an den Umbruch doch sonst gern auf das minoritäre Wendemilieu.
Mittlerweile, 2003, ist die „Entzauberung“ weiter vorangeschritten. Birgit Müllers zentrale Frage, ob die Beschäftigten „an persönlicher Autonomie gewonnen oder verloren haben“, verliert sich im Laufe ihrer Untersuchung. Aber dieses Verschwinden mag treffender die Aktualität beschreiben als jede Antwort. Denn das Deprimierende im 13. Jahr der Wiedervereinigung ist ja, dass die neoliberale Utopie einer schrankenlosen Ökonomie im Osten weitgehend Wirklichkeit ist. Die Bereitschaft zur wirtschaftlichen Willfährigkeit ist hier nahezu grenzenlos und trotzdem herrscht ökonomische Ödnis. Die Verwundungen des Sozialen sind daher nirgendwo besser zu beobachten als im Osten. Schließlich war hier das Soziale der Kitt, der das Ganze zusammenhielt, und ist heute Zumutungen ausgesetzt, die der Westen (noch) nicht kennt. Man wünscht sich eine Fortsetzung von Birgit Müllers Buch, wie sie etwa Barbara und Winfried Junge mit ihren „Kindern von Golzow“ für den Dokumentarfilm geliefert haben. ULRICH BRIELER
Birgit Müller: „Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Ethnologische Erkundungen in ostdeutschen Betrieben“, 230 Seiten, Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2003, 29,90 €