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Archiv-Artikel

Zu spät für den Aufstand der Anständigen

Das Böse lauert nachts: In den Anrufshows des Privatfernsehens ist Spaßkultur alles und ein Menschenleben nichts

Die Sendung kam ziemlich spät, natürlich im „Privatfernsehen“, wie wir Alten dazu sagen. Außer mir sahen gewiss nur Taxifahrer und andere lichtscheue Subjekte zu: Hinter einer blonden Moderatorin stand ein Sprichwort an der Tafel – die Buchstaben waren innerhalb der einzelnen Wörter vertauscht, die Reihenfolge der Worte selber stimmte dagegen. „NAM MSUS EDI SETEF RIEFEN IWE EIS LALFNE“ war in Großbuchstaben zu lesen, „man muss die Feste feiern wie sie fallen“, entschlüsselte ich innerhalb weniger Minuten sofort.

Der Spruch war sinnbildlich für das Privatfernsehen. Es zelebrierte damit sich selbst und die ihm programmatische Menschenverachtung: Aus diesem einen Satz wehte der faulige Geist von Nazipornos, koksenden Kabelträgern und beim Anblick der einstürzenden Twin Towers besinnungslos jubelnden Zuschauern. Spaßkultur ist alles und ein Menschenleben nichts. Für 49 Cent/Minute sollte das Publikum anrufen und die Lösung nennen. 500 Euro gab es zu gewinnen. Angeblich rief niemand an, und die Moderatorin tat erstaunt: „Hat denn noch niemand die Lösung – hallo?“. Als altem Medienhasen war mir die Masche klar: Je mehr Deppen anriefen, desto mehr Kohle schoben sich das Privatfernsehen und das Telefon gegenseitig in den glühenden Höllenafter, denn auch das Telefon ist Teil der Dreifaltigkeit des Bösen: Privatfernsehen, Militär und eben Telefon. „Ich weiß ja, das es nicht leicht ist“, log die Moderatorin. Keiner rief an, und überfordert stammelte sie immer das Gleiche. „Warum dauert es denn so lange?“

Das war definitiv keine Masche mehr. Etwas Einzigartiges war geschehen: Es rief tatsächlich niemand an, denn jeder dachte, „ich gewinne ja doch nicht“ – zum ersten Mal in der langen und scheußlichen Geschichte des Privatfernsehens dachte das jeder. Von wegen lichtscheues Gesindel – wie durch ein Wunder schienen sich in dieser Nacht die aufgeklärtesten Humanisten des Landes vor dem Bildschirm versammelt zu haben, um über ihr Schweigen gegen diesen Quark abzustimmen, mit dem man uns öffentlich demütigte. Wir waren eine große verschworene Gemeinschaft. Vielleicht mochte der eine oder andere auch was geraucht haben – doch allemal besser als mordend und plündernd durch die Straßen zu ziehen.

Wir ließen sie zappeln. Es wäre so einfach gewesen, aus diesem Solidarkreis der Gerechten um des schnöden Mammons willen auszuscheren, doch jeder hielt durch. Keiner war so korrupt und selbstsüchtig, denn einen einzigen schwachen Moment hätte das Privatfernsehen genutzt, um uns alle mit seinen ureigensten Waffen zu schlagen. Wir spürten, dass hier unendlich viel mehr auf dem Spiel stand als 500 Euro: Es ging darum, der Menschheit ihre Selbstbestimmung zurückzugeben – dafür fochten wir einen einsamen nächtlichen Kampf. Dies war ein Aufstand der Anständigen für eine Wende zum Besseren und der endgültigen Zerschlagung des Bösen.

Die Moderatorin stotterte. Und immer noch blieben wir stark, dabei hätte ein Anruf genügt, um konkurrenzlos die Patte einzustreichen. Als würde ich beobachtet, nahm ich ganz vorsichtig den Hörer ab und wählte die eingeblendete Nummer – man muss die Feste feiern wie sie fallen. Irgendjemand anderes war leider schneller.

ULI HANNEMANN