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Archiv-Artikel

Die mit der Muschel gehen

Der Pilgerpfad ins nordspanische Santiago de Compostela lockt heute auch Agnostiker und Naturliebhaber über die grünen Grenzen

Die Strecke ist authentisch, wenn man von Autobahnen oder Tagebau absiehtNur Hippies sehen sie in den günstigen Pilgerrefugien nicht so gerne

von HENK RAIJER

Auf dem Camino hat es schon manch einen erwischt. Wer gerne wandert und eines Sommers der Faszination der historischen Route nach Santiago de Compostela erliegt, lässt sich leicht vom Pilgerfieber anstecken: Prächtige Sakralbauten in jedem Etappenort, Marienkapellen und Jakobsstatuen am Wegesrand, betende und singende Wallfahrer, nicht selten in historischem Gewand – da dürften am Ende eines entbehrungsreichen Tages selbst hart gesottene Agnostiker spirituell werden.

Die Pilgerfahrt ins galizische Santiago, wo der Legende nach seit dem Jahr 800 die Gebeine des Heiligen Apostels Jakob verwahrt werden, ist seit vielen Jahren für gläubige Katholiken nicht nur aus dem Rheinland und Westfalen ultimativer Höhepunkt religiöser Verzückung. Aber auch für Un(ein)geweihte, deren Zahl sich von Jahr zu Jahr erhöht, sind die täglich gut 30 Fußkilometer ans Ende der christlich-mittelalterlichen Welt eine Erfahrung der besonderen Art. Die Jakobswege, die bereits im 11. Jahrhundert fromme Gesellen aus allen Teilen Europas an den nordwestlichen Zipfel des heutigen Spaniens führten, um möglichen Zeugnissen vom Leben Jesu – in diesem Falle den Überresten seines Jüngers – nah zu sein, leiten heute nicht nur die, die mit der Muschel gehen, also religiös motiviert sind.

Diese „Kulturstraßen Europas“, so heißt es in der Präsentation des neuen Bandes aus der Reihe „Jakobswege“ des Kölner Bachem-Verlags, „vermitteln darüber hinaus europäisches Gedankengut, Kunst, Kultur, Natur, Spiritualität und Freude an der europäischen Vielfalt“. Erst recht, nachdem der Europarat die Caminos de Santiago 1987 zum kulturellen Erbe erklärt habe, „damit sie wieder dem Austausch von Ideen, Kunst und Kultur zwischen den Staaten dienen und zur Überwindung von Grenzen und Sprachbarrieren beitragen“. Politisch korrekt ist der Ansatz des nunmehr dritten Bandes, den die gelbe Jakobsmuschel auf europablauem Grund ziert, auch für Wanderer, die wenig spirituelle dafür kulturhistorische Intentionen haben.

„Der Weg war im Mittelalter die Schlagader des Kulturaustausches“, sagt Adolf Attermeier vom Umweltverband des Landesverbandes Rheinland (LVR), der als Herausgeber des Reiseführers firmiert. „Die Erfassung sämtlicher Jakobswege im Rheinland, im Süden der Niederlande und in Belgien dient ja nicht nur Pilgern zum Wandern, sondern soll ganz allgemein Wanderern wie übrigens auch Radfahrern das Angebot machen, eine Landschaft zu erleben“, erklärt der Landschaftspfleger. „Denn wer eine Landschaft erlebt und lieben lernt, wird sie auch schützen.“ Die Historizität der bislang auf einer Gesamtlänge von 650 Kilometern bearbeiteten Trasse in den drei Ländern sei im Übrigen verbürgt, behauptet Attermeier. Experten hätten bei der Wegeführung beratend zur Seite gestanden. „Die Streckenführung ist einigermaßen authentisch, wenn man von kleinen Störungen durch Autobahnen, Flurbereinigungen und den Braunkohletagebau einmal absieht.“

Die Idee, Pilgerwege zwischen Rhein und Maas zu markieren und mit dem Muschelsignet zu beschildern, hatte der niederländische Verein „Stichting Pelgrimswegen naar St. Jacob“ in Roermond. Der Verein nahm 1994 seine Arbeit mit einer bescheidenen Initiative auf, als er die Strecke entlang der Maas zwischen Swalmen über Roermond bis Thorn kartierte. Alsbald waren im Rheinland der LVR und die Deutsche Jakobus-Gesellschaft dabei, Jakobswege zu markieren, und man begann, gemeinsame Veröffentlichungen in Betracht zu ziehen. „Es gab schon damals eine wachsende Zahl von Interessenten, die die Wallfahrt auf dem Camino primär als sportliche Herausforderung ansahen“, erzählt Karel Wijshoff, Schriftführer des Vereins.

Wijshoff, der der niederländischen Sektion der Jakobus-Gesellschaft angehört, findet das legitim. Er selbst jedoch betrachte die Landschaft entlang des Camino weniger als kulturelle denn als religiöse. Entsprechend sei das Refugium, das sein Verein in einem Kellerraum der Christoffel-Kirche in Roermond als billige Schlafstätte für Pilger wieder hergerichtet hat, ausschließlich für Besucher mit einem Pilgerpass reserviert. „Unser Refugium, das 5 Euro kostet, ist für Menschen, die mit der Muschel unterwegs sind, deren Ziel die Grabeskirche des Heiligen Jakob in Santiago de Compostela ist“, erklärt Wijshoff. „Hippies wollen wir hier nicht so gerne haben.“ Denen dürfte die Gesellschaft glückseliger Pilger on the road aber auf Dauer ohnehin suspekt, die Landschaft im Nordwesten Europas zu unspektakulär, das Klima zu „uncool“ sein.

Wer indes weder die Zeit noch genug Ausdauer hat, um die gut 2.400 Kilometer vom Niederrhein an den nordwestlichen Zipfel Spaniens in einem durch zurückzulegen, kann sich mit dem detailliert beschriebenen Teilstück zwischen dem niederländischen Millingen am Rhein über Kevelaer, Straelen und Venlo bis runter nach Roermond und Maastricht ausprobieren. Wanderer und Radfahrer bewegen sich (getrennt!) in zehn Tagesetappen durch eine recht junge geologische Landschaft, die vor zwei Millionen Jahren durch die Flussläufe von Rhein und Maas geprägt wurde.

Bis heute ist das Niederrheingebiet ein vorwiegend agrarwirtschaftlich genutzter Raum geblieben, Backsteinbauten, Kopfweiden und Pappeln charakterisieren hier die Landschaft. Weiter nach Süden geht es dann durch das von kleinen Flüssen durchzogene Hügelland der niederländischen Provinz Limburg, wo der Pilger schon in früheren Zeiten nicht nur auf eine Unzahl von Orten der Besinnung und heiliger Reliquien traf, sondern auch auf burgundische Lebensart sowie Kaufleute und Herbergsväter, die nur zu gut verstanden, was es zum Gelingen einer Wallfahrt bedurfte.

Vor hunderten von Jahren folgten die Pilger dem Viehtrieb, um auf dem rechten Weg zu bleiben. Anhaltspunkte für diesen boten auch die Pilger, die ihnen entgegenkamen. Da sind die heutigen Wallfahrer mit dem mehrbändigen Führer „Jakobswege“ besser dran: Selbst wer weiß, dass er Santiago de Compostela in diesem Leben nicht mehr erreicht, wird in der eigenen Region entschädigt, liegt doch der heilige Ort getreu dem Motto, der Weg ist das Ziel, gleich um die Ecke.