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Archiv-Artikel

„Als bräche man zum Walfang auf“

Man braucht nur jemanden, der zusieht: Ein Gespräch mit dem Regisseur und Komponisten George Aperghis über Theater an Orten, wo die Menschen nicht ins Theater gehen, und über seine derzeitige Arbeit mit Studierenden an der Berliner UdK

Interview BJÖRN GOTTSTEIN und MARTINA SEEBER

taz: Herr Aperghis, Sie haben in jungen Jahren die freie Theatergruppe ATEM gegründet. Wie kam es dazu?

George Aperhis: Das war 1976, und der Geist von 1968 lag noch in der Luft. Ich war damals ein junger Komponist und hatte viel Erfolg. Ich wurde überall aufgeführt, und auf jedem Festival begegnete ich demselben Publikum. Und da ich habe mir gesagt, dass ich nicht mein Leben lang Musik für die diese 150 oder 200 Menschen schreiben werde, die mir von einer Stadt zur nächsten folgen. Ich wollte da raus. Ich habe dann zwar auch weiter für Festivals komponiert, aber schließlich musste ich ja auch von etwas leben.

Und was war bei ATEM anders?

Wir haben in Bagnolet gearbeitet, einem Vorort von Paris, wo die Leute nicht ins Theater gehen, kaum Musik kennen und eigentlich ausschließlich fernsehen. Ich wollte wissen, was passiert, wenn man sich an solch einem Ort niederlässt und mit solchen Menschen arbeitet. Wir haben dann zum Beispiel Workshops gemacht – mit Amateuren, mit Kindern, mit alten Leuten. Und das war sehr anregend.

Und jetzt werden Sie von der Berliner Universität der Künste eingeladen. Das ist doch nun auch wieder so eine Institution.

Ich habe sehr lange, 21 Jahre lang, mit ATEM gearbeitet. Und irgendwann wollte ich reisen und mit anderen Menschen arbeiten. Es kostet eben auch sehr viel Kraft, eine solche Einrichtung zu betreiben, und ich fühle mich jetzt viel freier. Es gibt ungeheuer neugierige junge Menschen, die etwas lernen wollen, und ich möchte ihnen beibringen, was ich gelernt habe.

Was machen Sie denn mit den Studenten hier in Berlin?

Wir versuchen einige meiner Projekte auf die hier bestehenden Möglichkeiten, den Raum, die Darsteller, zuzuschneiden. Wir arbeiten an einzelnen Gesten und so fort. Und ich glaube, dass wir bis zur Präsentation am Samstag etwas Sehenswertes auf die Beine stellen werden.

Arbeiten Sie mit einem bestimmten gestischen Vokabular?

Nein. Jedes Stück hat sein eigenes Vokabular. Es ist merkwürdig, aber die Dinge entstehen fast von selbst. Es gibt natürlich auch Stücke, die ich vom ersten bis zum letzten Takt auskomponiere. Aber meistens bringe ich nur einige Texte mit und verschiedene Musiken, die ich komponiert habe, sagen wir, hundert kurze Sequenzen, aber ohne zu wissen, mit welchem Text, mit welcher Musik das Stück beginnt und wohin es geht. Und beim Proben, auf der Bühne, finde ich dann die entsprechenden Bewegungen, die Gesten, die passende Musik und den richtigen Texte für einen Moment. Das passiert alles gleichzeitig. Es ist sehr anstrengend, aber es ist ziemlich großartig.

Und trotzdem ergibt sich so etwas wie eine Handlung?

Nicht im Sinne einer konkreten Geschichte. Es ist eine Polyphonie der Geschichten, die dem modernen Leben entspricht. Ich verwende keine theatralisch-narrativen Ideen, sondern philosophische, politische oder soziale Vorstellungen, die dann zum Gegenstand des Theaters werden. In meinem nächsten Stück arbeite ich zum Beispiel mit der Idee des Sturms. Ich habe dieses philosophische Bild eines Sturms bei Melville gefunden, im „Moby Dick“. Eine beinahe mystische, biblische Auffassung vom Unwetter, das ein bestehendes System hinwegfegt. Der Sturm ist eine Metapher für Dinge wie den Krieg oder einen Börsensturz, die das Schicksal der Menschen bestimmen. Und das sind viele Geschichten, nicht eine einzige.

Und welche Rolle spielen Sie dabei?

Die Darsteller können sich ja nicht selbst zusehen. Und man braucht jemanden, der zusieht und entscheidet. Das mache ich. Außerdem liegt ein großer Teil der Arbeit im Casting. Denn die Darsteller sind mindestens so wichtig wie ich. Es ist, als bräche man zum Walfang auf. Man heuert Matrosen an und weiß, dass man gemeinsam auf große Fahrt geht. Es ist ein großes Abenteuer.

Glauben Sie, dass es heute eine neue Tradition des Musiktheaters gibt, deren Exponent Sie sind – gemeinsam mit Komponisten wie Mauricio Kagel oder Heiner Goebbels?

Ich bin mir da nicht sicher. Ich glaube, die Einzelerfahrungen sind wichtiger. Kagel hat einen Weg eingeschlagen, ich einen anderen. Und Heiner hat wiederum seine eigenen Erfahrungen gemacht. Ich glaube nicht, dass hier eine neue Gattung entstanden ist, denn wir haben keine gemeinsame Basis. Vielleicht kann ich es aber auch nicht so deutlich erkennen, weil ich ja nun mal ein Teil davon bin.

Am Samstag, 27. 9., werden um 20 Uhr im Theater- und Probensaal der UdK, Fasanenstr. 1, Tiergarten, die Arbeiten des Workshops vorgestellt. Am Sonntag, 28. 9., gibt es um 11 Uhr ein Gesprächs- und Porträtkonzert mit Aperghis in der Komischen Oper, Behrenstr. 55–57, Mitte