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Archiv-Artikel

Angst vor Armut führt zu Abtreibung

Die Hartz IV-Debatte löst einen Anstieg an Schwangerschaftsabbrüchen im Ruhrgebiet aus, sagt der katholische Beratungsverein Donum Vitae in Mülheim. So eine Prognose sei unseriös, meinen dagegen andere Beratungsstellen

RUHR taz ■ Die Montagsdemos gegen Hartz IV wirken sich auf die Gebärwilligkeit der Revierbewohnerinnen aus. Das behauptet zumindest Ulla Höhne vom katholischen Lebensschützer-Verein Donum Vitae in Mülheim. „Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche wächst“, ist sie sich sicher. Die Diskussion über Hartz IV und die Einführung des Arbeitslosengeldes (ALG) II hätte bei vielen Paaren Ängste und Konflikte geschürt. „Die Menschen haben beispielsweise Angst, aus ihrer Wohnung zu fliegen“.

Die öffentliche Debatte habe viele Missverständnisse ausgelöst, sagt die Schwangerschaftsberaterin. Aber auch klare Fakten führten zu Ängsten, ein Kind auszutragen: Frühere alleinerziehende Sozialhilfeempfängerinnen werden nach Hartz IV als arbeitsfähig eingestuft und können bald nach der Geburt zur Arbeit verpflichtet werden. „Leider gibt es für ihre Kinder nicht genügend Betreuungsplätze“, so Höhne.

Ursula Renneke, die in der Dortmunder Beratungsstelle von Donum Vitae arbeitet, findet die Aussage ihrer Mülheimer Kollegin problematisch: „Man kann nicht Hartz IV und Abtreibungen in einen Zusammenhang stellen“, sagt sie. Es gebe vielfältige Gründe, die zum Schwangerschaftsabbruch führten. Sie selbst würde alles dafür tun, um schwangere Frauen zu beruhigen, die Angst hätten, in Hartz-Zeiten ihr Kind auszutragen: Heutige Sozialhilfeempfängerinnen erhielten im kommenden Jahr genauso viel Mehrbedarfszuschläge während der Schwangerschaft und die Zuschläge für alleinerziehende Mütter würden sogar leicht erhöht. „Das weiß nur niemand“, sagt sie.

Zwischen Schwarzmalerei und Schönreden bewegen sich die anderen Institutionen, die Schwangerschaftskonfliktberatung anbieten: „Tendenziell teile ich die Befürchtungen von Frau Höhne“, sagt Birgit Schoppmeier, Leiterin der Beratungsstelle von Pro Familia in Recklinghausen. „Hartz ist aber nur ein Baustein“, sagt sie. Seit Jahren sei eine wachsende Angst vor finanzieller Not und Arbeitslosigkeit zu spüren. „Während früher meistens psychische Gründe zur Abtreibung führten, überwiegen heute finanzielle Aspekte“, sagt die Beraterin.

Das bestätigt auch Rudolf Rahn, Leiter der Beratungsstelle für Schwangerschaftskonflikte beim evangelischen Kirchenkreis Herne: „In den vergangenen Monaten und Jahren sind die Existenzängste gewachsen.“ Gerade habe er ein junges Paar beraten, das zur Abtreibung tendiere: Beide sind Berufseinsteiger, er in einer Firma, der es schlecht geht, sie ist noch in der Probezeit. Sie hat Angst längere Zeit auszusteigen, weiß aber auch um die raren Betreuungsplätze für Kleinkinder.

Solche Fälle seien alltäglich, sagt Rahn. Ein weiterer Fakt sei, dass seine Beratungsstelle in den vergangenen Jahren mehr Scheine für einen Schwangerschaftsabbruch ausgestellt habe. „Wieviele davon dann wirklich den Eingriff vornehmen lassen, wissen wir nicht.“ Auch wenn er eine Korrelation zwischen Existenzängsten und Abbrüchen nicht bestreiten wolle: „Einen extremen Anstieg durch einen ‚Hartz IV-Effekt‘ kann ich nicht prognostizieren.“ Für vorsichtige Aussagen spricht auch die Statistik: Die Zahlen der Abbrüche auf Landesebene sind bis 2001 angestiegen und seitdem leicht gesunken. NATALIE WIESMANN