MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON SUSANNE MESSMER : Metzgerbruder
Maike Wetzel: „Lange Tage“. S. Fischer, Frankfurt 2003, 189 S., 10 €
Wenn es in deutschsprachigen Büchern um die Provinz geht, dann ist oft Langeweile angesagt. Die Provinz gilt als der öde Ort, an dem es nichts gibt als Neubausiedlungen und Vorgärten, Gewerbegebiete und Umgehungsstraßen. Wer hier aufgewachsen ist, der muss schleunigst weg, finden viele Autoren. Nicht so Maike Wetzel.
Der zweite Erzählband „Lange Tage“ von Maike Wetzel erzählt von einer ganz anderen Provinz. Die Provinz, in der ihre Helden aufwachsen, ist wild und aufregend – schon allein deshalb, weil alles so entschleunigt und reizunterflutet ist, dass es einschlägt wie der Blitz, wenn doch einmal etwas passiert. Ein Mädchen hört auf zu essen, bis die Familie nicht mehr vor die Tür geht. Sie wollen vermeiden, dass die Nachbarn Saft vorbeibringen, „damit es dem Kind bald wieder besser gehe“. Junge Leute setzen ihren Corsa vor einen Baum und gehen dabei drauf. Die Zeugin des Unfalls unternimmt im Rest des Jahres keinen Versuch mehr, mit jemandem zu sprechen. Zufällig kannte sie einen der Toten.
Maike Wetzel weiß, dass in der Provinz, wo wirklich wenig Leute wohnen, alle auf dieselben Schulen müssen, dass man deshalb mit Leuten aus Klassen, Schichten und Milieus zusammenkommt, mit denen man später nie wieder zusammenkommen wird. Am stärksten sind ihre trockenen, manchmal flapsigen, manchmal lakonischen Sätze, ist ihre durchrhythmisierte, klare Sprache deshalb in den Geschichten, die solche Konfrontationen beschreiben: In „Kraut und Rüben“ zum Beispiel, in der sich eine gelangweilte Teenagerin in einen Jungen verliebt, in den Bruder des Metzgers, weil er alles raucht, was man trocknen kann, weil er den Führerschein verliert, kaum dass er ihn hat, und weil er sie hinterm Festzelt auf die Motorhaube hebt und sich nicht darum schert, wenn andere dabei zusehen. Die Provinz ist bei Maike Wetzel nicht nicht dröge, sie ist auch nicht unbedingt echter als andere Orte, es ist nur einfach so, dass die Zusammenstöße, die hier stattfinden wie überall, ein bisschen härter ausfallen.
Großstadthasser
Henrik Hieronimus: „Morgens an irgendeinem Tag. Geschichten vom Leben“. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2003, 114 S., 16 €
In jedem Dorf, in jeder Kleinstadt gibt es drei oder vier Gestalten, eine kleine Clique, die wirklich cool ist, die aber zum Erstaunen aller nie Anstalten macht, ihr Dorf oder ihre Kleinstadt zu verlassen und dabei immer cooler wird. Leute wie diese beneidet man schon früh dafür, wie ungemein lässig sie dem Leben begegnen, dass sie eigentlich nur rumhängen, Drogen nehmen und fröhlich sind und sich deshalb später einfach nur irgendeinen Job suchen, der ihnen all das ermöglicht, ohne dass sie sich dafür krumm machen müssen. Die Helden, die Henrik Hieronimus in seinem Debüt „Morgens an irgendeinem Tag“ beschreibt, sind genau solche Figuren.
Hieronimus, 1979 im Ruhrgebiet geboren, ist heute in Borken, einem hessischen Nest zwischen Kassel und Marburg, zu Hause, hat eine Lehre im Garten- und Landschaftsbau absolviert, wechselte dann in den Straßenbau, verfasste und verlegte jahrelang ein Musikfanzine, wie man es wohl nur in der Provinz verfassen und verlegen kann, und wenn er den Lebensstil seiner Figuren nicht selbst ausprobiert hat, dann wird er ihn eingehend studiert haben.
Der Held von „morgens an irgendeinem Tag“ heißt Cherobini und – wie sollte es anders sein – verdient sich seine Brötchen auf dem Bau. Nichts brächte ihn auf die Idee, die gemütliche Kleinstadt zu verlassen, in der er beim Einkaufen gestrandete Existenzen trifft, mit denen er die Nachmittage versaufen kann. Ansonsten isst und kifft er gern, kocht sich ab und zu was Schönes, schimpft manchmal etwas ermüdend ausführlich auf die tägliche Informationsflut in den Zeitungen und den Trubel in den Großstädten, und ganz beiläufig erfährt man, dass Cherobini auch Bücher von Burroughs, Remarque und Faulkner liest und ab und zu ein wenig an seinem eigenen Roman weiterbastelt. Dass er deshalb seinen manchmal lästigen, alles in allem aber auch ganz erträglichen Job kippen und ein ambitionierteres Leben versuchen sollte, kommt ihm aber nicht in den Sinn. Die Tage plätschern ebenso angenehm vor sich hin wie die Erzählung, die keinen Anfang, kein Ende und keine Erklärungen kennt. Trotzdem fragt man sich an keiner Stelle, woher er kommt, wohin er geht und was er eigentlich will, dieser sympathisch antriebsschwache Held, und als er am Ende einmal sagt: „Ich bin ein abgeknicktes Stuhlbein, das nicht den Drang verspürt, repariert zu werden“, da will man ihm aufrichtig gratulieren.
Schnitzelesser
Claudia Kaiser: „Rocken und Hosen. Unterwegs mit meiner Band“. DTV, München 2003, 208 S., 9 €
Berühmte Bands kommen rum, weniger berühmte müssen überall hin – das ist eigentlich schon die Essenz, auf die sich Claudia Kaisers Debüt „Rocken und Hosen“ reduzieren lässt – eine Art Tourtagebuch der Münchener Freundinnenband Die Moulinettes, bei denen Claudia Kaiser als Sängerin, Gitarristin und Songschreiberin mitmacht.
Nun sind Tourtagebücher ja nicht unbedingt jedermanns Sache – man muss sich schon sehr für eine Band interessieren, um wirklich wissen zu wollen, wann wer an welcher Raststätte pinkeln musste und wann wer verlangte, endlich die Kassette umzudrehen. Claudia Kaisers Buch provoziert an vielen Stellen ein erstaunlich intensives Gefühl der Ungeduld – man fragt sich oft, wann endlich die Pointe kommt und warum sie dann auch noch erklärt werden muss. Aber schließlich findet man doch einen Grund, warum man dieses Buch lesen kann. Es sind die witzigen Beschreibungen der Auftritte in der Provinz, zu denen unbekannte Bands wie die Moulinettes gezwungen sind, der Kulturschock, der Exotismus, das Gefühl, es mit viel Vertrautem zu tun zu haben.
Sie sind schon einmalig, all die Drogeriemarktbesitzer, die die Moulinettes für einen Indoor-Gig buchen, die wortkargen schwäbischen Mixer mit Dreadlocks, die sich lieber an den Bongos der Schlagzeugerin vergreifen als ihr beim Aufbau zu helfen, die Bauern, die Mädchenbands engagieren, weil sie eine Frau für den Hof suchen. Am Nettesten in „Rocken und Hosen“ liest sich aber eine Szene über den Kulturverein von St. Georgen in Oberösterreich, einem Dorf mit hundert Einwohnern, der die Moulinettes zu seinen Frauenkulturtagen lud. Vor dem Auftritt gab es Schnitzel, naturtübes Bier und Obstler, danach noch mehr naturtrübes Bier – die Leute vom Verein sind vergnügt und überhaupt nicht enttäuscht, dass außer ihnen niemand zum Konzert gekommen ist. Man muss ihr unbedingt zustimmen, als Claudia Kaiser zu dem Schluss kommt: „So lässt sich’s auch im dumpfesten Landkaff ganz leger leben.“
Naturliebhaber
Claudia Koppert: „Allmendpfad“. Verlag Antje Kunstmann, München 2003, 197 S., 18,90 €
Wenn es nach Luzie ginge, dann müsste sich die deutsche Landwirtschaft so schnell wie möglich auf den Stand von vor hundert Jahren zurückentwickeln. Damals, da wurden sich beim Kartoffelausmachen und Radieschenbündeln noch Geschichten erzählt, es wurde gelacht und gesungen. Inzwischen aber müssen die Menschen mit dem „Rausch des Vorwärts“ Schritt halten, mit der Maschinisierung und Expandierung – höchste Zeit also, aufs Land zurückzukehren, dorthin, wo Luzie aufgewachsen ist und noch Reste dieser „alten“ Landwirtschaft mitbekommen hat, höchste Zeit, den Leuten mal zu zeigen, wie schön sie es haben und wie wenig sie das zu schätzen wissen.
Claudia Koppert erzählt in ihrem ersten Roman „Allmendpfad“ die Geschichte einer Familie aus Gärtnern, die am Ende, in der Person Luzies, wieder zu ihren Wurzeln zurückkehrt, dorthin, wo Mühe und Geduld ist, Menschlichkeit und Liebe zur Natur. Dabei tappt sie in jeden Napf, in den man bei einem Provinzroman tappen kann – und beschreibt das Land als verlorene Idylle, die es wiederherzustellen gilt. Luzies Erinnerungen an ihre Kindheit auf einem Land, das irgendwo an das Land rings um Heidelberg angelehnt ist, wo Claudia Koppert aufgewachsen ist, sind durch und durch pittoresk und sepiabraun. Die Menschen sprechen platt (Vorsicht! Mundart!) und schwelgen von morgens bis abends in Vesperbrot und Schuppenromantik (Achtung! Heimatroman!). Was das mit den Leuten zu tun haben soll, die heute wirklich noch auf dem Land leben? Nichts.
Der Verwaltungsjob, den Luzie in der Stadt lernt, ist für sie nur entfremdete Arbeit, und als sie dann noch beginnt, in einem Dritte-Welt-Laden zu arbeiten, entwickelt sie endgültig die manierierten Sehnsüchte einer Verkäuferin im Reformhaus. Anstatt die drei Äcker, die ihr die Eltern schenken, zu verkaufen, schmeißt sie ihr urbanes Leben und macht eine ökologische Gärtnerei auf. Der Postkartenkitsch ist perfekt. Fortan kommt die Wirklichkeit nur noch in Form von Spaziergängern vor, die, während Luzie auf dem Feld arbeitet, an ihr vorbeiskaten und -joggen und -powerwalken.
Stillsteher
Jörg Matheis: „Mono“. C.H. Beck, München 2003, 250 S., 17,90 €
Hier sind es eher die Frauen, die Schwestern oder die Freundinnen, die den Absprung schaffen. Die Jungs dagegen, sie hängen an ihrem Zuhause, am Dorf, in dem sie aufgewachsen sind. Sie wollen immer im Elternhaus wohnen bleiben, fassen keinen Fuß in ihrem Erwachsenenleben. Die Männer in Jörg Matheis’ Debüterzählungen „Mono“ sind einsam und traurig, sie sind gescheitert, noch bevor sie überhaupt viel probiert haben, und wollen die letzte Haut, die sie beschützt, das heiß geliebte und gleichzeitig verhasste Vertraute, einfach nicht abstreifen.
Melchior zum Beispiel. Er riecht den Fluss im Sommer, sitzt abends oft am Straßenrand, macht sich Bier auf und grüßt die Leute,wenn welche vorbeikommen. Obwohl er noch nie woanders war als im Haus seiner Eltern, die gestorben sind, sagt er zu seiner kleinen Schwester, die ihn bald verlassen wird: „Das ist das schönste Land, das es gibt.“ Das Geld vom Zeitungsaustragen reicht ihm, auch der Ford, der immerhin noch fünfzig Sachen fährt, auch die kaputten Freunde, der Bauer Weyand, der das Land hasst und nur mit „wütend vorgestrecktem Kinn auf dem Mähdrescher“ sitzt, oder Bergwanger, der lieber seine Ziegen ertrinken lässt als auf den Rat Melchiors zu hören.
In einer anderen Geschichte, in „Nenn es deine Abschiedstour“, gibt es einen Bruder, der erfolgreicher Webdesigner war und aus unerfindlichen Gründen nach Hause zurückgekommen ist. Jetzt sitzt er immer nur noch in einem Sessel und trinkt und trinkt, bis er Nasenbluten bekommt, lässt sich von der Mutter pflegen und erinnert sich, wie ihn der Vater, als er noch lebte, mit dem Gürtel durch das Haus scheuchte. Seine Schwester hingegen ist nur ihrem verrückten, ewig zuversichtlichen Geliebten aufs Land gefolgt, der unbedingt sein Leben umkrempeln musste und jetzt den Naturburschen mimt – eine Haltung, mit der er bei den Geschwistern nur Spott und Häme erntet. Selbst die Mutter sagt zu ihm: „Was macht ihr hier – hier ist doch nichts.“ Als sich die Sache mit dem Geliebten erledigt hat, geht sie weit weg, nach Berlin, auch wenn ihr nichts daran liegt, wie sie sagt.
Die Provinz bei Jörg Matheis, 1970 selbst im beschriebenen Landstrich, in der Pfalz, geboren, ist ein klaustrophobischer Ort, düster, melancholisch, wüst. Nach außen hin strahlt er Stillstand und Ruhe aus, wirft aber klammheimlich die Menschen auf sich selbst zurück. Er ist die Heimat, die man nicht loswird. Ein Sehnsuchtsort, der sich, wenn man die Distanz aufgibt, in sein Gegenteil verkehrt.