Colum McCann liest im Literaturzentrum aus seinem neuen Nurejew-Roman „Der Tänzer“
: Respektvolle Annäherung

Als Rudolf Nurejew, Lichtgestalt des Balletts, 1993 starb, schrieb die New York Times, mit ihm habe ein Komet glühend die Erde gestreift. In Colum McCanns neuem Roman Der Tänzer, aus dem er jetzt im Literaturzentrum liest, geht es dem Autor nicht darum, dieser sich im eigenen Strahlen verflüchtigenden Persönlichkeit habhaft zu werden. Wohl aber unternimmt er den Versuch einer Annäherung, die sich aus biographischen Daten speist und doch vor allem von seiner kraftvollen Imagination lebt.

Eine Chronologie der Erinnerung anzunehmen, kommt für McCann dabei nicht in Frage: Erinnern bedeutet, eine Geschichte zu erzählen, und diese wird umso lebendiger, je mehr Stimmen zu Wort kommen. So lässt er neben Nurejew weitere Figuren sprechen. Einige Stimmen erklingen nur einmal, andere durchziehen das ganze Buch, das ganze Leben des Tänzers. Das beginnt im trostlosen Ufa, wo das Kind Rudik gegen den Willen des Vaters mit dem Tanzen beginnt. Mit dem Ensemble des Leningrader Kirow-Theaters gelangt er ins Ausland, setzt sich 1961 ab, gilt in seiner Heimat als Landesverräter. Er tanzt an allen großen Opernhäusern der Welt, seine Auftritte sind umjubelt. Aber nicht nur auf der Bühne zieht er Männer und Frauen magnetisch an. Er ist ein Besessener, der seinen Körper zum Äußersten treibt, „eine Art Mensch gewordener Hunger“.

McCann nähert sich Nurejew indem er sich immer wieder von ihm entfernt, seinen Fokus auf andere Charaktere richtet, die dem Rastlosen begegnen. Aus der Vielfalt der Blicke kann ein Bild entstehen, welches sich der Eindeutigkeit jedoch entzieht. Zugleich schafft der Autor so eine Choreographie der Spiegelungen. Denn mitnichten sind beispielsweise die Schwester, der Freund Victor oder Sergej, der Mann der ersten Tanzlehrerin Anna, nur Schatten im Lichte des Genies. Sie haben eigene Geschichten, in deren Verläufen sich die Lebensmotive und Konflikte Nurejews spiegeln.

„Anna, der Klang deines Namens stößt noch immer die Fenster dieses Zimmers auf.“ Diesen Satz schreibt Sergej nach dem Tod seiner Frau, nach einer jahrzehntelangen Lebensgemeinschaft. Und darin liegt eine Verheißung, eine Spur, die der Getriebenheit Nurejews, seinem rauschhaften Eilen von Körper zu Körper, von Mann zu Mann unterlegt ist. Lesend erahnt man den Riss, der ihn spaltet, zwischen Polen aufspannt: Er schwankt zwischen Größenwahn und Selbstverachtung. Er ist einfühlsam und von nicht zu überbietender Grobheit; charmant und unflätig. Er ist der tatarische Bauer, der Beckett auswendig lernt. Er ist der unpolitische Künstler, der zum Politikum wurde. Der Sohn, der sich für das Tanzen und so gegen sein Familie entschied und der sich schuldig fühlt; dem es trotz aller Beziehungen nicht gelingt, der Mutter ein Ausreisevisum zu verschaffen. Seine Auftritte in der Öffentlichkeit sind grelle Inszenierungen seiner selbst. Anrührend sind dabei die Momente wirklicher Privatheit und Intimität. Zwischen Tanz, Einsamkeit und Begehren wirbelt Nurejew. Die Haltlosigkeit wird spürbarer, als die Verlangsamung einsetzt. Ende der 80er Jahre darf er die Mutter besuchen, sie erkennt ihn nicht.

Nurejew tanzt bis zum Schluss. McCann deutet die ersten Zeichen seines sinkenden Sterns nur an. Vor dem körperlichen Zerfall, dem Sterben an Aids lässt er den Vorhang fallen – auch darin zollt er dem Tänzer Respekt. CAROLA EBELING

Colum McCann: Der Tänzer, Reinbek: Rowohlt Verlag 2003; 473 S., 22,90 Euro.Lesung: Mo, 29.9., 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38