: Keine Zeit, Primadonna zu sein
Rita Preuss macht nicht viel Aufhebens um ihre Person. Das sollte sie aber. Denn die künstlerischen Spuren dieser Charlottenburgerin ziehen sich über viele Wände in der Stadt. Bald wird sie 80 Jahre alt
VON WALTRAUD SCHWAB
Rita Preuss spricht in anschaulichen Sätzen. Solchen wie: „Ich hab mich durchgefressen bei Freunden.“ Oder: „Mit Perspektive hab ich es nicht so.“ Auch: „Er hat gebrüllt wie ein Tier.“ Die Syntax ist klar; die Wortwahl fällt nicht aus dem Rahmen. Die Sätze der Künstlerin, so aus dem Zusammenhang gerissen, könnten zugegebenermaßen ins Leben von vielen heute 80-Jährigen passen. Weil sie demnächst diesen Geburtstag begeht, hat ihr das Stadtmuseum eine große Ausstellung in der Nikolaikirche geschenkt.
Preuss macht kein Aufhebens um ihre Person. „Ich hatte keine Zeit, Primadonna zu sein“, sagt die Charlottenburgerin. Dort, wo sie geboren wurde, hat sie die meiste Zeit auch gelebt: Zwischen der Kantstraße, dem Kurfürstendamm, dem Savignyplatz und der Bleibtreustraße ist ihr Quartier. In dieser Umgebung hat die Künstlerin ihre Bilder gemalt. Je heiler Berlin nach dem Krieg wurde, desto mehr fand Preuss zum Realismus auch in der Kunst zurück. Soll heißen: Sie hat ihn ohnehin nie aufgegeben. Und dies, obwohl ihre Werke der Fünfziger- und Sechzigerjahre zeigen, dass sie versuchte, sich vom Gegenständlichen zu entfernen, flächig zu werden, das Reale im Abstrakten aufzulösen, toskanische Landschaften expressionistisch und Spinnweben kubistisch zu malen.
Mit den „Dingen des Lebens“ beschäftigt sich Preuss. So heißt auch die derzeitige Retrospektive. Menschen porträtiert sie oft. Prototypen – Punker, Bettler, Alte. Auch sich selbst oder ihren sterbenden Mann. In den Porträts beschönigt sie nichts, wenngleich sie auch nicht anklagt. „Ich bin eine Beobachterin“, sagt Preuss von sich selbst. „Ich bin kritisch, laufe nicht mit geschlossenen Augen rum.“
Allerdings hat sie auch ein Faible fürs Kontemplative. Sie malt gerne Obst, Blumen, Häuser, Landschaften. Viel „nature morte“. Der vornehme Begriff vertuscht etwas: Bei Preuss lebt die tote Natur. Noch besser: Sie führt ein Eigenleben. Die Künstlerin nämlich erlaubt sich eine radikale Freiheit: Perspektive, Proportionen und solche ordnenden Dinge, das muss aus ihrer Sicht nicht sein. Deshalb schweben Früchte bei Stilleben fast ätherisch übers Blatt, türmen sich übereinander gestapelte Blumenbouquets akrobatisch ohne Halt, bilden Teppich und Kommode eine fortlaufende Linie in der Diagonalen. „Mit Perspektive hab ich es nicht so; ich arbeite in der Fläche“, sagt sie. Ein räumliches Durcheinander jedenfalls bietet sich mitunter in Preuss’ Bildern dar, das die Betrachterinnen und Betrachter gemäß ihrem eigenen Ordnungssinn schon irgendwie entwirren.
„Ich will den Realismus mit den Erkenntnissen der abstrakten Malerei kombinieren“, sagt Rita Preuss. Also beides in einem machen. Das ist die Hintertür, durch die sie dem Kunstbetrieb entschlüpft ist. Denn für die einen ist das ein Sowohl-als-auch, für die anderen ein Weder-noch, damit aber auf jeden Fall inkonsequent. Für Dritte aber zeugt es von der Lust auf Eigenes, von Humor, gar von Frivolität.
Das Eigene zeigt sich auf komplexe Weise in ihren jüngsten Arbeiten. Auf dem Bild „Die Römischen Bäder in Sanssouci“ etwa. Es ist eine farbintensive, aber strenge, geometrische Komposition, die wie ein italienisches Landschaftsbild wirkt, auf dem sich das Badehaus im Wasser spiegelt. Die Spiegelung ist ein Suchbild, denn das Abgebildete gleicht dem Vorgegebenen nur auf den ersten Blick.
Humor wiederum beweist die Künstlerin, wenn ihr Blick sich schonungslos auf sich selbst richtet. Auf einem ihrer Selbstporträts trägt sie eine Pinselkrone, auf einem anderen einen Kochtopf. Malerin? Hausfrau? Preuss macht sich selbst zum Gespött.
Und Frivolität? Die drückt die Künstlerin durch die Dinge aus. Durch Tortenbuffets, angerichtete Muscheln, exotische Früchte. Letztere präsentiert sie vor grellfarbenem Hintergrund. Um die Bildtiefe schert sie sich nicht. Im Auge der Betrachtenden entsteht das komplexe Bild, in ihrem Kopf die Verlockung. „Ich versuche, in meinen Bildern und Grafiken die Welt, so wie ich sie sehe, sichtbar zu machen. Das heißt nicht, dass die Dinge falsch sind“, sagt Preuss.
Manchmal aber, wenn ihre Arrangements in Form, Komposition und Tiefe tadellos sind, dann revoltiert der Bildinhalt gegen das Schöne: Spraydosen neben toten Vögeln beispielsweise. Oder ein Berg zusammengefegter Plastikbecher nach einer Veranstaltung. Ein ausgeschlachteter alter VW. Leere Benzinkanister im Wind. Echte „nature morte“ eben, die das Schöne im Hässlichen zeigt und das Hässliche im Schönen.
Synthesen aus Widersprüchlichem herstellen – auf diese Weise kann Preuss mit sich und der Welt nachsichtig sein. Denn das muss eine sein, die den Krieg in Berlin erlebt hat, die Bombennächte, die Zerstörung, den Arbeitsdienst, eine richtige Überzeugung in der falschen. Als Preuss alt genug war für eine eigene Meinung, da ging es bereits ums nackte Überleben. Am Ende, als die Russen schon in Berlin waren, wurde ihrem Vater von einer Stalinorgel der halbe Magen weggerissen. „Er hat gebrüllt wie ein Tier.“ Sie hat ihn noch zum nächsten Hilfslazarett gebracht, aber ein paar Stunden später war er tot. Unter Beschuss habe sie ihn eingebuddelt, mitten auf dem Grünstreifen auf dem Kurfürstendamm. Sie erzählt, aber der rote Faden der Geschichte geht ihr verloren. Fünf Stunden habe sie gebraucht, um von der Grolmanstraße zur Bleibtreustraße zu kommen. Sie sei gekrochen, habe geheult, verlor die Kontrolle über ihren eigenen Körper, sagt sie. Am schlimmsten aber sei gewesen, dass sie ihren Vater nach dem Krieg wieder ausbuddeln musste, wegen Seuchengefahr.
Als die Russen nach Berlin kamen, war Preuss 20 Jahre alt. Und? – Eine gefundene Beute? – Bis heute ist zu spüren, dass sich die Frauen schämen für das, was ihnen widerfahren ist. Dem ersten Soldaten, der ihr die Bluse aufriss, hat sie noch eine Flasche über den Kopf gehauen, sie ist weggerannt, hat sich unter einer Pritsche im Luftschutzkeller versteckt und ist davongekommen, weil kurz danach Werwölfe auftauchten, erzählt sie. „Die sehe ich noch tot vor der Kellertür liegen.“ – Und dann? – Ihre Augen nicken.
Während des Krieges war Preuss dienstverpflichtet. Sie machte eine Lehre bei Siemens als Schlosserin und technische Zeichnerin. Ihr Chef sah ihre künstlerische Begabung und förderte sie. Außerdem war sie mit Künstlern befreundet, erzählt sie. Mit denen ging sie immer ins Theater, wo mit verteilten Rollen Stücke gelesen wurden. 1946 fing sie an zu studieren an der wieder eröffneten Kunsthochschule. Die war damals in einem Ausweichquartier in der Bundesallee. Der von den Nazis verfemte Karl Hofer war der Direktor. Alles war improvisiert. „Aber wir waren nicht bedrückt. Die Bombennächte waren vorbei. Wir hatten überlebt. Die Jungs kamen ja alle vom Krieg, aber wir hatten die Gnade der ersten Stunde.“ Später war sie Meisterschülerin bei Max Pechstein, der zur Künstlergruppe „die Brücke“ gehörte.
Bettelarm war Preuss in den Fünfzigerjahren, denn auf die Kunst wollte sie nicht verzichten. „Ich hab Klimmzüge an der Tischkante gemacht. Ich hab mich durchgefressen bei Freunden.“ In dieser Zeit wird ihr geraten, in die „angewandte Kunst“ zu gehen. Sie macht es. An fast 40 Gebäuden in Westberlin hat sie zwischen 1955 und 1993 Wände, Fassaden oder Fenster gestaltet. Die meisten als Mosaike. Von Hand gelegt. „Durch das Manuelle entsteht die Brillanz“, sagt Preuss. Die größte Arbeit auf einer Wand im Kantgymnasium, auf der sie die Weltphilosophie wiedergibt, umfasst 56 Quadratmeter. Oft verbergen sich komplexe Geschichten in den Mosaiken. In jenem in der Polizeischule Ruhleben beispielsweise kommen alle Disziplinen der Polizei vor, aber auch ihr eigener Fingerabdruck. In der Synagoge am Lietzensee hat sie eine Allegorie auf Jerusalem verwirklicht. Alles hat Bedeutung. Auch die Farben, die sie verwendet. Rot ist das Leben, schwarz der Tod, weiß die Farbe der Heiligkeit, gelb oder golden die Glückseligkeit.
Dass sie mit ihren vielen Wandgestaltungen überall in der Stadt Spuren hinterlassen hat, spielt in der Rezeption ihres Werkes kaum eine Rolle. Angewandte Kunst werde nicht erst genommen. „Frauen müssen ohnehin besser sein als Männer“, lautet das Fazit der Künstlerin. Sie selbst musste 76 Jahre alt werden, um eine renommierte Berliner Auszeichnung, den Hannah-Höch-Preis, zu erhalten.
In den letzten Jahren hat sich die Charlottenburgerin mit Kronprinzessin Victoria von Preußen beschäftigt. Wie Preuss selbst habe diese ihr ganzes Leben in Berlin und Potsdam verbracht. Alle Orte, an denen sie sich aufgehalten hat, hat die Künstlerin gemalt. Zu allen Jahreszeiten. Bei Hitze, bei Frost, bei fallenden Blättern. Große Bilder sind entstanden, die an venezianische Malerei erinnern. Gebäude, ins Bild gesetzt wie architektonische Kompositionen. Das Kronprinzenpalais in Grün imposant vor blauem Hintergrund. Schloss Babelsberg im Herbst, in den Farben der Umgebung versinkend. Das Neue Palais, flankiert von transparenten Statuen, eingebettet in einen lachsfarbenen Himmel und eine rötliche Erde.
Die großen künstlerischen Freiheiten, die sich Preuss über die Jahre erarbeitet hat, fügen sich in diesen großen Bildern ganz leicht zusammen. „Es ist der Einstieg in mein Alterswerk“, sagt die weißhaarige Frau, die doch so jung aussieht. „Dass ich noch etwas machen will, das ist mein Korsett.“