Der in den Dingen liest

Karl Schlögel mag keine Großtheoretiker und keine allzu schnellen Denker. Er durchstreift die Städte des europäischen Ostens, sammelt Fundstücke, die die Historiker oft nicht für beachtenswert halten: Adress- und Telefonbücher, Stadt- und Fahrpläne, Pläne von Verkehrs- und Kanalisationssystemen. Die Architektur, die verschwundene wie die erhaltene, wird für ihn Material, um „Wirklichkeit“ zu verstehen.

Schlögel ist Osteuropa-Historiker mit dem Schwerpunkt der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In Monografien und Sammelwerken hat er die Geschichte der russischen Emigration nach Westen erforscht und dargestellt. Aber sein Hauptinteresse galt von Beginn an, als er in den frühen 80er-Jahren „Moskau lesen“ veröffentlichte, der Topografie und der historischen Schichtung der Großstädte. In der Ethnologie heißt dieses Verfahren dichte Beschreibung. Gleich einem Naturforscher verweilt er „bei den Dingen“, nie versiegt seine Neugier. Er will, wie sein großes Vorbild, der Philosoph Walter Benjamin, nicht überreden, er will nur zeigen, obwohl er weiß, dass er als Historiker hinter seinen Fundstücken nicht verschwinden kann. Schlögel beherrscht stilistisch die kleine Form, konzise Beobachtungen, geschliffene Kurzbiografien. Das hat ihm viel Bewunderung eingetragen – und den Neid mancher Kollegen.

Politisch hat Schlögel stets dafür geworben, sich der Kultur und Geschichte des europäischen Ostens zuzuwenden. Er trat, damals aus einer Minderheitsposition, dafür ein, mit der Einheitsvorstellung vom „Ostblock“ zu brechen und zu verstehen, dass die Mitte Europas „ostwärts“ liegt. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus hat er dafür plädiert, der neuen Bedeutung historischer Räume Rechnung zu tragen. Er will die Schauplätze des Geschehens erhellen, Beziehungen zwischen Orten erforschen. Das hat nichts mit der reaktionären Geschichte der deutschen Geopolitik zu tun, an der sich Schlögel in seinem Werk „Im Raume lesen wir die Zeit“ freilich nicht abgearbeitet hat. Sein letztes großes Werk ist dem Moskau des Jahres 1937 gewidmet, dem Jahr des Großen Terrors, aber auch des großen Traums vom besseren Leben unter dem Kommunismus, den Millionen aus den Dörfern in die Städte geströmten „Massen“ hegten. Alles passiert in diesem Jahr gleichzeitig und die Widersprüche lassen sich nicht in einer Theorie fusionieren. Für ihn ist Stalin nicht der ausschließliche Architekt des Massenmordes. Er treibt an und wird getrieben. Und der Terror hat nicht das eine Zentrum im Kreml.

Für dieses eindrucksvolle, aber auch verstörende Werk wird Karl Schlögel heute mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt. CHRISTIAN SEMLER