: „Die Gesellschaft soll solche Dinge aushandeln“
Sanem Kleff, Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), über das Urteil und die Auswirkungen auf den Diskussionsprozess
taz: Die GEW hat Frau Ludin im Prozess unterstützt. Freuen Sie sich jetzt?
Sanem Kleff: Ja. Das Urteil zeigt, dass die GEW Recht hatte: Wir meinten, dass der Staat nicht legitimiert ist, eine Bewerberin ohne gesetzliche Grundlage aufgrund ihres Kopftuches abzulehnen. Das Urteil sagt genau das: Der Staat braucht eine juristische Basis dafür, dass er Bewerberinnen ablehnt. Es sagt damit nicht, dass man mit Kopftuch unterrichten dürfen muss. Diese Unterscheidung ist mir sehr wichtig.
Die Richter haben den Ball in den politischen Raum zurückgespielt. Hätten Sie lieber ein klares Urteil gehabt?
Nein, zu Recht weist das Gericht darauf hin, dass Politik und Gesellschaft sich allein darüber klar werden müssen, wie sie es mit der Religion halten. Die Richter haben sich insofern als die wahren Vertreter der Zivilgesellschaft dargestellt. Sie haben klar gemacht, dass diese Entscheidung eine politische ist. Eine Gesellschaft, die von religiöser Vielfalt geprägt ist, muss entsprechende Regeln aushandeln. Es ist gut, dass das nicht von oben verordnet wird. Das hatten einige sicherlich gehofft, weil das Kopftuch, der Islamismus und die Religionsfrage dann weniger unter die Lupe genommen und diskutiert würden.
Erwarten Sie, dass nun die Trennung von Staat und Religion insgesamt in Deutschland neu verhandelt wird?
Das wäre schön. Ich finde die Privilegierung bestimmter Glaubensgemeinschaften in Deutschland nicht gut. Aber ich habe nicht die Illusion, dass das im nächsten Jahr ein Ende nimmt. Doch die Debatte ist eröffnet, und sie wird in zehn Jahren sicher anders geführt als heute. Ich hoffe auf diesen Diskussionsprozess.
Im Vorfeld des Urteils war manchmal vor einer Art Unterwanderung eines Teils der Gesellschaft durch den politischen Islam gewarnt worden. Sehen Sie den politischen Islam durch das Urteil gestärkt?
Nein. Zwar wird die Szene, so wie ich sie kenne, erst mal jubeln. Aber wir haben schon oft Propagandakampagnen der Islamisten aushalten müssen. Wir werden dem eine offene Diskussion entgegensetzen.
Die Richter haben gesagt, dass man über den Einfluss eines Kopftuchs auf Kinder kaum Erkenntnisse hat. Wie sollen sich Politik und Gesellschaft ein Bild machen?
Es ist gut, dass das Gericht hier kein mechanistisches Bild zeichnet: wenn Kopftuch, dann Gefahr. So einfach geht es nicht. Die Politik muss sich klar werden, ob sie religiöse Äußerungen in dieser Form in der Schule haben möchte oder nicht. Ganz unabhängig davon, wie konkret die „Gefahr“ einer religiösen oder politischen Beeinflussung ist.
Wofür plädiert die GEW?
Religiöse Symbole haben meines Erachtens keinen Platz an einer staatlichen Schule, die mit Steuergeldern finanziert wird. Sie dürfen auch von Lehrerinnen nicht hineingetragen werden. Man kann das im Einzelfall lockerer handhaben, wenn es prinzipiell einmal geklärt ist.
Das heißt, Frau Ludin bekäme kein Recht auf ihr Kopftuch, aber vielleicht würde für sie eine Ausnahme gemacht werden? Ist das gerecht?
Ja, warum nicht? Wenn die entsprechenden Diskussionen mit den Eltern und in der Schule stattgefunden haben und alle einverstanden sind, dann kann man eine Ausnahme machen. Ich plädiere dafür, dass die Gesellschaft solche Dinge aushandelt. Die Voraussetzung für solche „Öffnungsklauseln“ ist aber eine klare gesetzliche Grundlage.
INTERVIEW: HEIDE OESTREICH