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Archiv-Artikel

Die Gefahren der Nachtarbeit

Jung und von der Last der Symbole befreit: Die Filmreihe „Stadt in der Krise – Neues Kino aus Argentinien“ im Arsenal gilt den Verwerfungen des Alltags. Denn in einem „Land voller Risse“ steht selbst ein durchschnittliches Leben unter Spannung

VON CRISTINA NORD

Ein junger Mann beim Arzt. Nackt sitzt er im Behandlungszimmer auf einer Pritsche. Die Kamera bleibt vor der Tür des Zimmers: Aus der Distanz schaut sie zu, wie die Hände des Mediziners den Körper ertasten, wie sie an der einen Stelle klopfen und an der nächsten Reflexe prüfen. Dazu, aus dem Off, ein Monolog: Nachts zu arbeiten, mahnt der Arzt, birgt viele Gefahren.

Man erfährt nicht viel über diesen jungen Mann, den von Adrián Suárez gespielten Protagonisten in Ana Poliaks Film „Parapalos“. Er heißt Adrián, kommt aus der Provinz nach Buenos Aires, wohnt bei seiner Cousine Nancy (Nancy Torres) und findet eine Anstellung in einer Kegelbahn. Als parapalo, Kegeljunge, der die Kegel in Position bringt und die Kugel zurückrollt. Die meisten Bahnen sind schon automatisiert, nur ein paar werden noch manuell betrieben; Zukunft hat der Beruf des Kegeljungen nicht.

„Parapalos“ ist ein ruhiger Film, fast ohne Plot. Die Kamera schaut, wie die Kugeln über die spiegelblank polierten Holzbahnen rollen, und fängt den Augenblick ein, in dem die Kegel unter der Wucht des Aufpralls auseinander schleudern. Die Kamera zwängt sich in den Holzaufbau, in dem die parapalos auf ihren Einsatz warten, und hört ihren Geschichten zu. Nach Dienstschluss kriecht sie dann in das kleine Zimmer, in dem Adrián und seine Cousine das Bett abwechselnd nutzen: er, der Nachtarbeiter, tagsüber, sie, die Tagsarbeiterin, nachts. Was machen sie, fragt man sich bald, wenn beide frei haben? Der Film bleibt die Antwort nicht schuldig: Sie schlafen Kopf an Fuß.

„Parapalos“ gehört zu den schönsten Filmen, die die Reihe „Stadt in der Krise – Neues Kino aus Argentinien“ ab heute im Arsenal vorstellt. Poliaks Film – beim Filmfestival von Buenos Aires gewann er im April den Hauptpreis – ist ein Beispiel für das junge, entschlackte, von der Last der Symbole befreite Kino, das sich in dem südamerikanischen Land im Lauf der letzten Jahre etablieren konnte. Dieses Kino will nichts beweisen, sondern gibt sich damit zufrieden, erst mal nur hinzuschauen. So kann es die Verwerfungen der Gegenwart ins Visier nehmen, ohne Urteile und Lösungen bereitzuhalten. Es hat wenig Interesse an den großen Geschichten des Erzählkinos, stattdessen widmet es sich dem Alltag, den Wegen und Verrichtungen durchschnittlicher Menschen.

Trotz ihres fast dokumentarischen Zugangs entwickeln die Filme ein ausgeprägtes Formbewusstsein. In Lucrecia Martels „La Ciénaga“ („Der Morast“) zum Beispiel, der vom Dahindämmern einer wohlhabenden Familie im Norden des Landes erzählt, kommt kaum eine Szene zu ihrem Ende. Der Schnitt unterbricht bewusst den Fluss der Bilder. Während „La Ciénaga“ in Deutschland startete, nahmen andere Filme – wie Lisandro Alonsos „La Libertad“ oder Pablo Traperos „El Bonarense“ über einen jungen Polizisten in der Vorstadt von Buenos Aires – zwar am internationalen Festivalgeschehen teil, doch in die hiesigen Kinos kamen sie leider nicht.

Der von Peter B. Schumann kuratierten Reihe, die ab heute im Arsenal läuft, geht es um den Widerhall, den die politische und wirtschaftliche Situation des Landes im Kino findet. Die Filme reflektieren die Krise, die das Land seit Mitte der 90er-Jahre durchläuft und die im Dezember 2001 eskalierte, oft en passant, wie „La Mecha“ („Der Brenner“, 2003) von Raúl Perrone: Ein alter Mann aus einer ärmlichen, fast ländlichen Vorstadt sucht nach einem Ersatzteil für einen Gasheizer; dieses Ersatzteil wird nicht mehr produziert, seine Suche – vielleicht die letzte Reise vor seinem Tod – führt ihn durch eine Stadt, die wie ein riesenhaftes Dorf aussieht. Buenos Aires ist in „La Mecha“ nicht die elegante Metropole europäischer Prägung, als die es sich in seinem Zentrum entwirft, sondern ein Labyrinth ohne definierte Grenzen, am Leben gehalten von Schattenwirtschaft und Improvisationskunst.

Auch „Bolivia“ von Adrián Caetano (2000) schildert die Krise beiläufig: Der in ruhigem Schwarzweiß gedrehte Film spielt fast ausschließlich in einer Eckkneipe. Freddy, ein Bolivianer (Freddie Flores), heuert dort als Koch an. Die Stammgäste haben Schulden, der Wirt lässt nicht mehr anschreiben, die Kellnerin Rosa (Rosa Sánchez), auch sie eine Einwanderin, weckt verschiedene Begehrlichkeiten. Münzen werden über den Tisch geschoben, Biergläser gefüllt und geleert, und wer nichts konsumieren, sondern schlafen will, wird vor die Tür gesetzt. „Bolivia“ schaut zu, wie die Spannungen wachsen, und selbst wenn die Dialoge manchmal zu deutlich machen, was ohnehin sichtbar ist – der Neid der argentinischen Figuren auf Freddy und Rosa, die prekäre Situation –, so gleicht die zurückgenommene Inszenierung Caetanos dies wieder aus.

Hinzu gesellen sich die explizit politischen Filme. Darin geht es um die Militärdiktatur, um die Verschwundenen, um die Kinder, die den Frauen in den Folterzentren abgenommen wurden, und, in der Gemeinschaftsproduktion „Cine Piquetero“, auch um den Ausnahmezustand des Dezembers 2001. Das sind zweifellos wichtige Themen, doch gelingt es nicht jedem der Filme, eine unvoreingenommene Sicht zu entwickeln.

Die hastigen Videobilder von „Cine Piquetero“ etwa machen aus ihrer Parteilichkeit keinen Hehl; die Aufnahmen der Straßenproteste wollen von den Formeln des linksradikalen Heroismus nicht lassen. Und in „Nietos – Identitad y memoria“ („Enkel – Identität und Erinnerung“, 2004) von Benjamín Avila wird der in die Gegenwart ragende, unauflösbare Schmerz der zwangsadoptierten Kinder zwar deutlich, zugleich aber sind die Gewissheiten der richtigen politischen Einstellung allzu schnell bei der Hand.

Einen reflektierteren Zugang zum selben Sujet findet „Los rubios“ („Die Blonden“, 2003) von Albertina Carri. Carri war drei Jahre alt, als ihre Eltern 1977 verschleppt und getötet wurden. Anstatt ihnen mit ihrem Film ein Denkmal zu setzen, fragt die Regisseurin beharrlich nach der Leerstelle, die mit dem Verlust der Eltern entstanden ist. Weder die politischen Analysen der Weggefährten von damals noch die idealisierenden Erinnerungen der Familienmitglieder helfen ihr weiter. Ihre älteren Schwestern erzählen Relevantes erst, nachdem das Mikrofon ausgeschaltet worden ist. Eine Frau, die im selben Lager wie Carris Eltern inhaftiert war, möchte erst gar nicht vor die Kamera treten; „Los rubios“ stellt ihre Erinnerungen etwas unbeholfen nach. Indem der Film die Schwierigkeit sichtbar macht, sein Thema der Verschwundenen überhaupt zu packen zu bekommen, und sich für einen persönlichen Zugang entscheidet, wagt er viel mehr als etwa „Nietos – Identitad y memoria“. „Wir leben in einem Land voller Risse“, sagt Analía Cruceyro, die Schauspielerin, von der Albertina Carri sich verkörpern lässt. „Los rubios“ – ein Film voller Risse – macht diesen Satz anschaulich.

Ab heute im Kino Arsenal, bis 30. Oktober