: „Der Terrorismus ist kein universales Problem“, sagt Ernst-Otto Czempiel
Statt Schröders öffentliche Zurückhaltung zu kritisieren, sollte man sich um Lösungen in Tschetschenien bemühen
taz: Professor Czempiel, die Schröder-Regierung begründet ihre Außenpolitik gerne mit der Pflicht zur Einmischung. Wie passt dazu die Zurückhaltung gegenüber der Tschetschenien-Politik Putins?
Ernst-Otto Czempiel: Die Diskussion um die Äußerung Schröders möchte ich rein innenpolitisch deutsch bewerten. Die verschiedenen Parteien nutzen die Situation, um ihre Position gegenüber der Bundesregierung kundzutun. Ein Beitrag zur Lösung des Tschetschenien-Konflikts ist das nicht. Bei einem Gipfelgespräch mit Putin wird der Kanzler natürlich nicht dem russischen Präsidenten öffentlich bescheinigen, dass die Wahl in Tschetschenien manipuliert war.
Sie meinen, nichtöffentlich sei anders geredet worden?
Was tatsächlich in Sotschi verhandelt worden ist und ob die Bundesregierung nicht auch andere Vorschläge gemacht hat, ob sie nicht auch Putin bedrängt hat, eine politische Lösung des Konfliktes zu suchen – das steht auf einem anderen Blatt.
Sehen Sie nicht dennoch eine Diskrepanz zum ansonsten hohen moralischen Anspruch der Bundesregierung?
Die Kritik an der Politik von Präsident Putin halte ich für außerordentlich berechtigt und sie sollte intensiviert werden. Es sollte sich die deutsche Politik – die Parteien, der Bundestag, auch die deutschen Medien – mal mit der Frage beschäftigen, wie denn eine politische Lösung aussehen könnte, die dem Terrorismus das Wasser abgräbt. Diese Kritik, wie sie jetzt gegenüber Putin geäußert wird, hätte ich aber auch gerne einmal mit Bezug auf die Politik der Amerikaner im Irak und auf die Politik der Likud-Regierung in Israel gehört. Dort haben wir ja dasselbe Phänomen vor uns: Befreundete Regierungen betreiben eine Politik, die den Terror nährt.
Selbst gegenüber Washington gibt man sich inzwischen emanzipierter, während gegenüber Moskau zumindest öffentlich eine Politik der Nichteinmischung betrieben wird.
Ich glaube das nicht. Die beste Form der Einmischung besteht in solchen Fällen zunächst und in erster Linie darin, dass sie kooperativ vor sich geht, dass sie also nicht gegen den Willen der Regierung vorgenommen wird. Denn dies führt erfahrungsgemäß zu nichts. Stattdessen gilt es, die Beziehungen zu der Regierung zu nutzen, um dort eine Sinnesänderung zu erreichen. Ich finde, wir sollten erst einmal abwarten, wie Putin mit der Sache umgeht, nachdem er in Sotschi mit Chirac und Schröder zusammengetroffen ist. Ein folgenlose Aufregung, eine Konfrontation, wie sie derzeit in der deutschen Parteienlandschaft stattfindet, bringt für das Tschetschenien-Problem überhaupt nichts. Stattdessen sollten sich die deutschen Parteien und der Deutsche Bundestag die Mühe machen, zu entscheiden, welche der vorliegenden Ideen zur Lösung des Tschetschenien-Konflikts die beste wäre. Und sie sollten sich überlegen, welche Strategien und Möglichkeiten wir haben, um uns dort einzumischen. Ich sage: Wir haben sehr viel Möglichkeiten.
Was könnte denn der Westen, speziell Deutschland oder die EU, jetzt tun?
In der jetzigen, entsetzlichen Situation mit der Besetzung der Schule kann der Westen wahrscheinlich überhaupt nichts machen. Aber ich denke, man muss darüber nachdenken, wie man die wirtschaftliche Situation in Tschetschenien verbessert und dies mit der Forderung an die russische Regierung verknüpft, eine Wahl zu veranstalten, die die verschiedenen politischen Optionen in der Bevölkerung widerspiegelt. Man kann die Situation nur dadurch verbessern, indem man den Menschen mit der Perspektive eines ökonomischen Fortschritts die Möglichkeit bietet, sich nicht immer an den ethnischen Konflikten zu orientieren. Das ist nicht alles, aber zunächst das Wichtigste.
Und wie könnte man die russische Politik noch stärker beeinflussen?
Zum Beispiel durch entsprechende Wirtschaftshilfe seitens der Europäischen Union, indem man das Angebot so großzügig ausstattet, dass es den Tschetschenen auch tatsächlich helfen würde. Man kann dies – leise – mit politischen Fortschritten hin zu einer einvernehmlichen politischen Lösung verknüpfen.
Sehen Sie denn nach der derzeitigen Eskalation bei Putin überhaupt noch die Bereitschaft zu einer Lösung ?
Putin macht genau dasselbe, was in Israel und in Amerika in den entsprechenden Fällen auch gemacht wird: Augen zu und mit Gewalt reagieren. Er macht genau das Falsche. Und es ist richtig, das zu sagen. Aber es ist nicht Putin allein, der das Falsche macht.
Wie Bush mit dem Krieg im Irak sieht auch Putin den Konflikt im Kaukasus als Teil eines weltweiten Antiterrorkrieges.
Es ist eine bewährte Taktik der Regierenden, die Konflikte so zu deuten, dass sie Wasser auf ihre Mühlen leiten. Putin macht aus dem Regionalkonflikt Tschetschenien einen Universalkonflikt Terrorismus. Bush macht aus dem Regionalkonflikt Irak einen Universalkonflikt Terrorismus. Es sollte die Aufgabe gerade der Europäer sein, eine Demaskierung vorzunehmen. Denn die Europäer wissen, dass hier eine Fehlinterpretation geliefert wird, um keine politischen Konzessionen und keine innovative Politik machen zu müssen. Wir sollten klar machen, dass der Terrorismus keineswegs ein universales Problem ist, sondern dass er regionale, lokale – in allen Fällen aber politische Ursachen hat.
INTERVIEW: ERIC CHAUVISTRÉ