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Archiv-Artikel

Achtung der Differenz

Michael Warschawski hat eine beeindruckende politische Autobiografie geschrieben. In ihr warnt er vor einer neuen Bedrohung Israels: der gesellschaftlichen Spaltung in Israelis und Juden

„Was mal die Rechte war, ist jetzt das Zentrum“, hieß es kürzlich in einem israelischen Cartoon. Nur: „Wo ist die Linke [the Israeli Left] geblieben?“ – „It left.“ Sie ist verschwunden. Bittere Wahrheit: Der Großteil der israelischen Friedensbewegung hat seine Mission bereits mit dem Beginn des Osloer Friedensprozesses für beendet gehalten – in der irrigen Annahme, die Rabin-Regierung werde schon alles richten. Den Rest erledigte dann Premierminister Ehud Barak mit seinem erfolgreichen Propagandafeldzug, der Palästinenserpräsident Jassir Arafat die alleinige Schuld für das Scheitern der Friedensgespräche in Camp David 2000 zuschrieb und diesem gar unterstellte, Frieden gar nicht zu wollen.

Doch es gibt in Israel durchaus noch eine Linke, auch wenn sie öffentlich kaum noch wahrgenommen wird. Zu ihr zählt Michael Warschawski, der seit 35 Jahren für die friedliche Koexistenz von Israelis und Palästinensern kämpft. Mit „An der Grenze“ hat er ein beeindruckendes Dokument seiner politischen Entwicklung vorgelegt. Der Bericht dieses Grenzgängers verdient schon allein wegen seiner brillanten Analyse der israelischen Gesellschaft und seiner unpaternalistischen Haltung gegenüber den Palästinensern große Beachtung. Wichtig ist Warschawskis Buch aber auch, weil er eine Seite Israels repräsentiert, die viel zu wenig wahrgenommen wird.

1949 als Sohn eines Großrabbiners in Straßburg geboren, ging Warschawski 1965 nach Israel, um seine Talmudstudien fortzusetzen. Mit dem Zionismus hatte er nichts im Sinn, und das sollte auch so bleiben. Er engagierte sich bald politisch gegen die Besatzung der Palästinensergebiete. Er schloss sich „Mazpen“, der sozialistischen Organisation Israels, an, deren jüdische und arabische Gründer 1962 als Dissidenten aus der Kommunistischen Partei Israels ausgeschlossen worden waren. Die kleine Gruppe vertrat marxistische Ansichten, forderte die Demokratisierung und „Dezionisierung“ Israels und wollte, dass das Land sich in den arabischen Nahen Osten integriert – Ziele, denen der Autor bis heute treu geblieben ist.

Die Identifizierung mit dem internationalen Sozialismus führte bei den Aktivisten jedoch auch zu einem Identitätsverlust, sagt Warschawski. Bei ihm indes führte die Solidarität mit den Palästinensern zur Festigung seiner Identität als israelischer Jude. So konnte er seine „übernationale, proletarisch-globale Identität“ überwinden: „Wir haben den Kampf der Palästinenser nicht als Palästinenser unterstützt, auch nicht als Weltbürger, sondern als Israelis; als Israelis, die sich entschieden haben, mit der in ihrer eigenen Gesellschaft herrschenden Praxis und Ideologie zu brechen.“

Die gesellschaftliche Ächtung und Isolierung, die Mazpen in der Anfangszeit erfuhr, war 30 Jahre später nicht mehr denkbar. 1993 erkannte die israelische Regierung immerhin die Existenz des palästinensischen Volkes und seine Ansprüche auf nationale Selbstbestimmung an. Das war stets eine Forderung der Linken. Doch die Regierung war nicht bereit, ihre Siedlungspolitik einzustellen und die Grundlage für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Warschawski, der, anders als viele andere Gesinnungsgenossen, der Umsetzung der Osloer Verträge zunächst zuversichtlich entgegensah, beschreibt das Scheitern des Friedensprozesses und die beunruhigenden innenpolitischen Entwicklungen. Nach Rabins Ermordung schworen sich die meisten Gesellschaftsgruppen – und mit ihnen ein Großteil der Linken – auf das Credo der nationalen Versöhnung ein. Die Spaltung zwischen rechts und links verschwand. Seither sei die Besiedlung der palästinensischen Gebiete nicht mehr umstritten, nur noch ihr Umfang.

Viel bedrohlicher für die Existenz Israels, meint er, sei die neue gesellschaftliche Spaltung, der Widerspruch zwischen Israelis und Juden: Auf der einen Seite jene Bürger, die ein säkulares, westlich-liberales und modernes Israel wollen, das sich von der arabischen Welt abwendet, und auf der anderen jene Israelis, für die nur eine traditionalistische, orientalische und religiöse Ghettoexistenz infrage kommt. Warschawskis Ausführungen zu diesem sozialen und kulturellen Bruch, der das kleine Land längerfristig zu zerreißen droht, lassen tief hinter die Kulissen des alles überschattenden Nahostkonflikts blicken.

Der Autor, Mitglied des Friedensblocks Gush Shalom, für den die kuschelige Mitte des Konsenses nie Teil seines Lebensentwurfs war und der auch seine linken Genossen vor Kritik nicht schont, wünscht sich als Ausweg aus der allgemeinen Krise einen dritten Weg: Er hofft, dass die Menschen in der Region die Grenzen zum „Anderen“ durchbrechen, zugleich aber auch klar ihre eigenen Werte definieren werden – „demokratisch, säkular und solidarisch, offen für den anderen und in Achtung der Differenz“. Für ihn heißt das zurück zu einer jüdischen Diasporaidentität, zurück zu dem kulturellen Erbe und der Toleranz, den der Zionismus am Diasporajudentum stets verachtet hat. Nur wenn Israel seine Lage im Nahen Osten akzeptiere und sich in seine arabische Umwelt integriere, habe es eine Zukunft. ALEXANDRA SENFFT

Michael Warschawski: „An der Grenze“. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Edition Nautilus, Hamburg 2004, 256 Seiten, 19,90 €