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Archiv-Artikel

Wenn Eltern Trauer tragen

Hilfe für das Unfassbare. Etwa 1.000 Selbsthilfegruppen für Hinterbliebene gibt es in Deutschland. Mit einer neuen Geschäftsstelle will sich der Bundesverband verwaister Eltern weiter professionalisieren

Aus HannoverKai Schöneberg

Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern. Meine Liebe wird mich überdauern Und in fremden Kleidern dir begegnen und dich segnen. (Ringelnatz)

„Er ist ohne einen Grund umgefallen und nie wieder aufgestanden“, sagt Gisela Sommer heute, 14 Jahre nachdem ihr Sohn verstarb. Zwei Jahre, über 700 quälende Tage lang, hat sie „nicht gewusst, ob ich weiter leben möchte“. Wozu Lachen? Wozu Weinen? Wozu alles? Nun sitzt Frau Sommer (61) in der frisch geweißten Geschäftsstelle des Bundesverbands Verwaiste Eltern in Deutschland (VEID) in Hannover und erzählt von Eltern und Bekannten, die sich mit ihrer Trauer an sie wenden. „Sensibler“ sei sie mit der Zeit geworden, „stärker“. Und „weniger kompromissbereit“. Frau Sommer, von Beruf Krankenschwester, ist heute Vorstandsmitglied des Vereins, der sich mit dem Umzug von Reppenstedt bei Lüneburg in die große Stadt weiter professionalisieren will.

„Wir möchten, dass jeder im Umkreis von höchstens 30 Kilometern eine Anlaufstelle hat“, sagt Rolf Lüke, Geschäftsführer des VEID, der selbst den Bruder durch Multiple Sklerose und die Schwester durch einen Badeunfall verloren hat. Seit 1997, als mit der Gründung des Verbands die Idee der „Compassionate Friends“ („Mitfühlende Freunde“) aus den USA und Großbritannien nach Deutschland schwappte, hat sich in Deutschland bereits ein ansehnliches Netzwerk von Selbsthilfegruppen gegründet. Hier wird mit Müttern, Vätern, Geschwistern, Großeltern oder Freunden über das Unfassbare geredet, Trauerbegleiter vermittelt, Auswege gesucht. Laut Lüke sind dem Verband 400 bis 500 kleine und kleinste Anlaufstellen bekannt, weitere 500 soll es in Deutschland geben, meist durch Privatinitiative entstanden.

Jetzt sollen die Hilfsangebote stärker vernetzt werden, der Bundesverband kümmert sich um die Ausbildung von ehrenamtlichen Gruppenbegleitern, schafft Kontakte zu Hilfsangeboten vor Ort. Lüke will natürlich auch von in der Landeshauptstadt ansässigen Stiftungen oder der Politik Fördergelder und Spenden sammeln: „Deshalb wollten wir in eine Großtstadt ziehen“. Vielleicht wird es nicht einfach werden: „Wir sind eine Organisation, die den Tod im Namen trägt“, sagt Frau Sommer. Immerhin hat der Verein schon Kanzler-Gattin Doris Schröder-Köpf für eine Veranstaltung gewinnen können, die ganz in der Nähe des neuen Domizils im Zooviertel wohnt.

Scheiden tut manchmal mehr als weh. Das Schlimmste ist die Stille, das Schweigen über das Tabu. Gisela Sommer konnte lange weder mit ihrem Mann noch mit ihrer Tochter über den Tod ihres damals 19-jährigen Sohnes reden. Die Familie drohte zu zerbrechen, weil plötzlich lange schwelende Probleme zutage traten. Freundinnen fragten Sommer nach einem halben Jahr, ob sie „nicht mal über etwas anderes reden kann“. Dafür wurde sie von religiösen Menschen mit Bibelzitaten „erschlagen“. Viele Vorgesetzte erwarteten zudem nicht nur, dass Betroffene nach dem Schock wieder mehr Leistung zeigen, sondern auch, dass „man zur Betriebsfeier geht“. Gisela Sommer wurde schließlich gemieden. Sie hat sogar erlebt, „wie die Nachbarn die Straßenseite wechselten“.

Die Selbsthilfegruppe half ihr aus der Isolation. „Hier wird auch oft gelacht – viele Trauernde denken ja, sie dürften das nicht“, sagt Gisela Sommer. Inzwischen hat sie viele beim Verarbeiten des Unfassbaren unterstützt. Und dennoch gibt es auch heute „immer noch viele Tage, an denen ich abstürze“. So hat sie neulich geweint, als ihr ein Baby in den Arm gelegt wurde. Ihr Sohn wäre heute 34 Jahre alt – „und er hätte bestimmt Kinder“. Die Trauer über das Geschehene höre „wahrscheinlich nie auf“, sagt Frau Sommer, „die nehme ich mit ins Grab. Und zwar genauso wie die Freude über meine lebende Tochter“.

Kontakt und Informationen über regionale Anlaufstellen: 0511 / 337 27 26 (werktags 9-13, 14-16 h), www.veid.de