: Strandleben
8. Preis: Der Fritten-Verkäufervon JUTTA REICHELT
Da war schon die nächste Störung im Anmarsch. Ein fettig glänzender Urlauber. Drei Tage hatte er gebraucht, um rundherum rot zu werden, und jetzt würde er sich für den Rest des Urlaubs unter einen Sonnenschirm verkriechen, würde sich zur Belustigung anderer Urlauber stöhnend drehen und wäre nach zwei Wochen Urlaub so weiß wie zuvor, nur fetter. Die Fritten waren der Anfang vom Ende gewesen, er hätte sich niemals darauf einlassen dürfen. Hätte sich durchsetzen müssen und sagen, nein Mutter, es ist doch schon jetzt kaum mehr auszuhalten, lass uns aufhören mit den Strandkörben, den Schirmen und dem Spielzeugschnickschnack, jetzt bekommen wir noch gutes Geld für die Lizenz. Wer weiß denn, was in ein paar Jahren ist mit den stinkenden Löchern im Watt und mit der Erderwärmung und den verregneten Sommern und die Leute haben immer weniger Geld und Strandkörbe gehören nur noch für ein paar nostalgische Rentner zu dem, was sie dann auch noch ständig „diese einmalige Erholung an der deutschen Nordseeküste“ nennen. Jetzt kam der Dicke direkt auf Jan Stinner zu. Immerhin war er kein Schwätzer, sagte geradeheraus, wie viel Portionen und welche Getränke er wolle, verzog sich zum Warten in den Schatten, den das Klohäuschen warf, und erschien erst wieder, wenn er die Fritten in der Schüssel kreisen hörte. Normal war das nicht. Normal waren einfallslose Kommunikationsversuche, vorgetragen im Ton höchster Ernsthaftigkeit und Originalität. Wie unbegabte Laiendarsteller trugen sie ihm die immer gleichen Sätze vor. Wir kommen ja schon das neunte Jahr, was sagt denn der Wetterbericht, ist der Kaffee auch frisch, hier zu arbeiten muss doch wunderbar sein. Wenn er sie doch nur wie ein Regisseur mit einem „Danke, das reicht“ unterbrechen und für immer fortschicken könnte. Da musste er dem Dicken dankbar sein. Kein überflüssiges Wort – dafür hätte er eigentlich einen Orden verdient. Oder einen Preis. Das wär’s, einen Preis ausloben für den „Urlauber der Saison“. Dafür wäre der Dicke zu hässlich, aber zum „Urlauber des Monats“ sollte es allemal reichen. Bereitwillig würde er die Strandkörbe in einem Halbrund um seinen Bretterverschlag, den seine Mutter beharrlich Kiosk nannte, aufbauen und würde auf dem Dach des Klohäuschens stehend seine Rede ertönen lassen: Verfluchte Urlauber! Früher, in meinen wilden Jugendjahren, als ich nachts noch regelmäßig in die Strandkörbe urinierte – der ein oder andere unter Ihnen wird sich vielleicht noch an die Debatten über frei laufende Hunde erinnern – war ich der festen Überzeugung, dass meinen Mund niemals ein anerkennendes oder gar lobendes Wort über auch nur einen von Ihnen verlasen würde. Heute aber, im reifen Alter von bald dreißig Jahren … Das Vibrieren der Holzplanken ließ ihn hochschrecken. Der Dicke, die Fritten! Er riss den Korb aus dem sprudelnden Fett und stellte erfreut fest, dass man die Fritten ohne große Übertreibung noch als knusprig bezeichnen konnte. Um den Dicken erst gar nicht auf die Idee einer Reklamation zu bringen, pumpte er so viel Mayonnaise über die beiden Pommesschalen, dass die Fritten vollständig bedeckt waren. Der Dicke zeigte keinerlei Reaktion, bezahlte und machte sich auf den unverkennbar mühsamen Weg zurück zu seinem Sonnenschirm. Jan Stinner kramte aus seinem Rucksack ein kleines Notizbuch hervor. Die Idee mit der Rede gefiel ihm. Vielleicht könnte er sie auf seiner Homepage verwenden. Unter niewiedernordsee.de hatte er einiges zusammengetragen, von dem er sich abschreckende Wirkung auf potenzielle Urlauber versprach. Bilder von verendenden Seehunden und angeschwemmten Möwen, selbst eingescannte und bearbeitete Fotos von einem völlig überfüllten Strand, die gerade so unscharf waren, dass man nicht erkennen konnte, dass sie aus den Siebzigerjahren stammten. Auch wenn sich dieses Jahr erschreckend viele Urlauber über seine Warnungen hinweggesetzt hatten – er hatte noch zahlreiche Ideen und er besaß schon immer viel Geduld. Da würde in den nächsten Jahren auf die Urlauber einiges zukommen …
Fotohinweis: JUTTA REICHELT (36) gewann 2001 den Würth-Literaturpreis