: Auf der Bärenseite
Prägende Wahrheit-Redakteure:
Mathias Bröckers (1991) Karl Wegmann (1991–1995)Hans-Hermann Kotte (1994–1996)Barbara Häusler (1996–2000) Carola Rönneburg (1996–2000)Michael Ringel (seit 2000) Corinna Stegemann (seit 2000)
Die beiden wichtigsten Mitarbeiter:
©TOM wurde 1960 im sonnigen Südwesten geboren, lebt seit 1981 in Berlin und zeichnet seit 1991 den täglichen Comic-Strip „Touché“. Nebenher zeichnet er verschiedene Cartoons und Comics für alle anderen guten Zeitungen des Landes. Ralf Sotscheck wurde 1954 in Berlin geboren, seit 1985 ist er England- und Irland-Korrespondent der taz und lebt in Dublin. Seit 1991 schreibt er jeden Montag seine Kolumne auf der Wahrheit-Seite. Er gilt auch als „der berühmteste Nichtraucher der Welt“.
Die vier größten Wahrheit-Skandale dieses Jahrhunderts:
Die Mullah-Geschichte (2001). In einem 22-Zeiler über Mullahs wird ein Kindervers zitiert, der Allahs Hinterteil erwähnt. Als Resultat erreichen die Redaktion rund 13.000 Briefe und Mails aus aller Welt. Unterschriftenlisten liegen in Moscheen aus. Türkische und deutsche Boulevardblätter berichten über die „unglaubliche Entgleisung“. Angeblich sind „240.000 Berliner Moslems empört“. Die Gurke des Jahres (2001). Die Wahrheit übernimmt zum zehnten Geburtstag des Ressorts die Seite eins. Das Titelfoto zeigt die Grünen-Sprecherin Claudia Roth in einem bonbonbunten Abendkleid neben der Schlagzeile „Die Gurke des Jahres“. Das sei „frauenfeindlich“, heißt es. Der Penis-Prozess (2002). Der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Kai Diekmann, verklagt die taz, weil Gerhard Henschel in einem Artikel behauptet hatte, Diekmann habe eine Penisverlängerung an sich vornehmen lassen. Im so genannten „Penis-Prozess“ entscheidet das Berliner Landgericht, dass der Artikel nicht mehr veröffentlicht werden darf. Schmerzensgeld bekommt er jedoch nicht, da er in seiner exponierten Stellung als Chefredakteur von Bild laut Gericht mehr Kritik erdulden müsse als andere Personen des öffentlichen Lebens. Die Kartoffel-Affäre (2006). Wahrheit-Autor Peter Köhler schreibt in seiner Serie „Schurken, die die Welt beherrschen wollen“ über den polnischen Präsidenten Lech Kaczyński, der als Kartoffel bezeichnet wird. Es kommt zu diplomatischen Verstimmungen zwischen Polen und Deutschland. Kaczyński verlangte von der Bundesregierung eine Entschuldigung für die Satire und drohte der taz juristische Konsequenzen an.
Der Wahrheitklub:
Die folgende Mitteilung des Wahrheitklubvorstands darf nur von Vollmitgliedern gelesen werden. Nichtmitgliedern ist es strengstens untersagt, den Textinhalt zur Kenntnis zu nehmen. Der Wahrheitklub hat rund 1.300 Mitglieder. Es gibt seit Jahren wegen Überfüllung einen Aufnahmestopp. Zweimal im Jahr, auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt, findet eine öffentliche Vorstandssitzung des Wahrheitklubs statt.
Die Wahrheit auf dem taz-kongress:
Samstag, den 18. April 200918 Uhr, Café Global, Signierstunde mit ©TOM 20 Uhr, Raum K1, Lesung mit Wahrheit-Autoren von Silke Burmester bis Jenni Zylka, moderiert von Michael Ringel 23 Uhr, Raum K1, Lesung mit Ralf Sotscheck und Harry Rowohlt, moderiert von Michael Ringel
Das neue Wahrheit-Buch:
„Sternstunden der Wahrheit“, hrsg. v. Michael Ringel, Oktober Verlag, Münster 2009, 445 Seiten, 15,90 €
Die Wahrheit wird achtzehn. Und endlich erwachsen? Hoffentlich nicht! Zum Geburtstag erscheint ein Buch, das die „Sternstunden der Wahrheit“ aus diesem Jahrhundert präsentiert
VON MICHAEL RINGEL
Im Winter 91 lag der Schnee ein Meter fünfzig hoch in den Büros der taz, so dass sich die Wahrheit-Redakteure jeden Morgen den Weg zu ihren Schreibtischen mit bloßen Händen freischaufeln mussten. Sie hatten ja damals nichts in der Wahrheit – nur einen alten, von Fips Asmussen ausgemusterten Witzautomaten, der ständig ranzige Scherze ausspuckte, die mühsam mit der Hand auf Grüne und Langhaarige umgeschrieben werden mussten. Und es gab ein Paar Wollsocken, die sich die beiden Wahrheit-Redakteure tagsüber teilen mussten, um nicht zu erfrieren. Abends wurden die Socken dann in den Kochtopf gehängt, damit die einzige Mahlzeit des Tages, eine dünne Wassersuppe, wenigstens etwas Geschmack bekam.
So beginnen Heldengeschichten, nur leider fängt die Geschichte der Wahrheit-Seite in der taz etwas profaner an. Schon einige Zeit lang hatten Mathias Broeckers und Karl Wegmann Meldungen gesammelt, die auf den übrigen, ernsthaften Seiten der taz nicht untergebracht werden konnten. Im Jahr 1991 gelang es den beiden ersten Wahrheit-Redakteuren dann, der Restredaktion in zähen Verhandlungen die letzte Seite der Zeitung abzutrotzen.
Kurz zuvor war die von der Ostberliner SED finanzierte Zeitung der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins mit der DDR pleitegegangen, da lag es nahe, den vakanten Titel „Die Wahrheit“ zu verwenden. Das bis heute gültige und zeitlose Layout der Wahrheit-Seite entwarf dann Françoise Cactus, die seinerzeit noch als Layouterin der taz arbeitete und später als Künstlerin und Musikerin reüssieren sollte.
Im November 1991 wurde schließlich ©Tom verpflichtet, einen täglichen Streifen zu zeichnen, aus dem der „Touché“ entstand; und ungefähr zur gleichen Zeit begann Ralf Sotscheck mit seiner Montagskolumne aus Irland. Beide wirken nun seit sagenhaften 18 Jahren ununterbrochen auf der Wahrheit-Seite.
Wenn die taz in diesem Jahr 30 Jahre alt wird, dann feiert die Wahrheit ihren 18. Geburtstag. Die Wahrheit wird 18! Endlich erwachsen! Endlich darf sie alles tun: den Führerschein machen, an Wahlen teilnehmen, Pornos gucken … Aber will sie das überhaupt? Erwachsen werden? Seriös, solide, schnarchlangweilig? Wie ihre Feinde? Die beschimpfen die Wahrheit gern als „Kinderseite“ der taz und merken nicht, dass sie eine der ältesten Strategien aller Ernstler gegen die Kraft des Humors verwenden – die Diminuierung: Was man anders nicht beseitigen kann, soll wenigstens verniedlicht werden. Doch dafür ist die Wahrheit zu sperrig. Niedlich ist sie nur, wenn es um Tiere geht, die liebt sie über alles. Denn Tiere sind humaner als Menschen und jenen Kindern und Narren verwandt, die ja bekanntlich stets die Wahrheit sagen.
Außerdem ist die Wahrheit immer wieder von Tieren gerettet worden, wenn die Ticker leer waren und nur wenige Agenturmeldungen hereinrauschten. Dann erschien plötzlich kurz vor Redaktionsschluss wie einst Flipper oder Lassie irgendein Elch oder Bär im Nachrichtendschungel, und durch das Wahrheit-Büro gellte der erleichterte Ruf: „Endlich eine Bärenmeldung!“ Und die Wahrheit-Seite wurde zur Verblüffung aller Beteiligten erneut pünktlich fertig.
Dies alles kann man nun nachlesen in dem Sammelband „Sternstunden der Wahrheit“, der Anfang April zum taz-Kongress erscheinen wird und ausgewählte Wahrheit-Artikel von 75 Wahrheit-Autoren aus den vergangenen zehn Jahren präsentiert. Denn seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Herausgeber dieses Buchs amtierender Wahrheit-Reakteur und verantwortet damit den Charakter der Seite. Außerdem sind satirische Texte meist zeitgebunden, bei manchen weiter zurückliegenden Ereignissen wären heute schon erhebliche Erklärungen der Hintergründe für die Leser nötig. Damit sollen sich künftige Generationen von Germanisten beschäftigen. Die Texte mögen lieber für sich selbst sprechen und zeigen, dass die Wahrheit zwar ein Teil einer Tageszeitung ist, oft aber über das aktuelle Tagesgeschäft hinausweist.
Über die Alltagsarbeit hinaus wollte die Wahrheit immer auch einen Einblick geben in das Handwerk der Komik, wie Satiren, Glossen, Fakes, Anekdoten, Grotesken oder Nonsens-Texte funktionieren. Ein guter Wahrheit-Text muss immer auch ein humorkritisches Element besitzen und zumindest durchscheinen lassen, welche Schule des Humors der Autor besucht hat. Und da der aktuelle Wahrheit-Redakteur während seiner Schulzeit zu viel Dozirin eingeträufelt bekam, hat er der Wahrheit sogar ein Programm gegeben. Demnach hat die Wahrheit, wie es in ihrer Selbstdarstellung heißt, drei Grundsätze:
„Warum sachlich, wenn es persönlich geht.“
„Warum recherchieren, wenn man schreiben kann.“
„Warum beweisen, wenn man behaupten kann.“
Neben dieser hammerhart ironischen Programmatik gibt es allerdings einen sehr ernsthaften Grundsatz: Die Wahrheit schlägt nie auf Schwächere ein. Die Frage ist nur: Was sind Schwächere? Sind das auch all die Religiösen, die nicht nur die Wahrheit, sondern alle vernünftigen Menschen dauernd einschränken wollen, weil sie sich schwer verletzt fühlen, wenn man ihre Religion verspottet? Da bleiben Konflikte nicht aus, wie zum Beispiel im Jahr 2001, als die Wahrheit einen Scherzreim über Allahs Arsch druckte. Als Reaktion gab es 13.000 Leserbriefe aus aller Welt, Drohanrufe in der Redaktion, Unterschriftenlisten in Moscheen und eine Titelgeschichte im türkischen Boulevardblatt Hürriyet. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient. Die Muslime hatten einfach nicht verstanden, dass es uns eine Ehre war, sie zu verspotten. Statt sie auszugrenzen, werden Muslime nämlich von der Wahrheit genauso behandelt wie andere Gläubige. Damit Komik entlarvend wirkt, müssen Regeln verletzt werden. Vor allem jene Regeln, die angeblich von einer höheren Macht aufgestellt wurden und in deren Auftrag Glaubensritter anderen Menschen etwas wegnehmen oder verbieten wollen.
Die Wahrheit ist immer gut für einen Skandal. Erwähnt seien hier nur die Schlagzeile „Die Gurke des Jahres“ zur Grünen-Chefin Claudia Roth im bonbonroten Abendkleid. Damit schaffte es die Wahrheit das erste Mal in die „Tagesschau“. Ein weiteres Mal gelang es im Jahr 2006 mit der „Kartoffel-Affäre“. Wahrheit-Autor Peter Köhler nannte den polnischen Präsidenten Lech Kaczyński eine „Kartoffel“, was zu diplomatischen Verwicklungen und der Androhung juristischer Konsequenzen führte.
Die Wahrheit hat einige Gerichtsprozesse überstanden – meist als Sieger. Manchmal aber auch nicht. Deshalb gibt es Artikel, die leider aus rechtlichen Gründen in dem Sammelband nicht mehr veröffentlicht werden dürfen, wie zum Beispiel Gerhard Henschels Satire „Sex-Schock! Penis kaputt?“ aus dem Jahr 2002. Darin wurde behauptet, dass der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Kai Diekmann, eine Penisverlängerung an sich habe vornehmen lassen. Diekmann verklagte daraufhin die taz zwar erfolgreich auf Unterlassung, scheiterte aber mit seinem Anspruch auf 30.000 Euro Schmerzensgeld. Dieckmann bekannte später in einem Interview, dass der „Penis-Prozess“ die größte Dummheit seines Lebens gewesen sei.
Ihren Feinden zum Trotz wird die Wahrheit auch in Zukunft weiter auf der Suche sein nach der Antwort auf die biblische Frage „Was ist Wahrheit?“. Fest steht bislang: Die Wahrheit ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Man könnte ja für die nächsten achtzehn Jahre die Devise ausgeben: „Schafft zwei, drei, viele Wahrheiten!“
MICHAEL RINGEL, Jahrgang 1961, ist taz-Wahrheit-Redakteur