Das Raskolnikow-Syndrom

Crime Scene: Neue russische Krimis von Alexandra Marinina, Polina Daschkowa u. a.

Schwerpunktland der diesjährigen Buchmesse ist Russland. Das ist gut, denn dort wurde (laut Thomas Mann!) „der größte Kriminalroman aller Zeiten“ geschrieben. Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ erzählte von einem gewissen Rodion Raskolnikow, der zwei alte Frauen mit einer Axt erschlägt. Es ist kein Raubmord im eigentlichen Sinne, nimmt Raskolnikow aus der Wohnung der Pfandleiherin doch nur ein paar wertlose Dinge mit. Man könnte es – zugegebenermaßen sehr kurz – so formulieren: „Der Mord wird begangen, um zu beweisen, dass der Täter dazu prinzipiell imstande ist.“

Das nennt die zeitgenössische russische Krimiheldin Anastasija Kamenskaja in Alexandra Marininas „Widrige Umstände“ das „Raskolnikow-Syndrom“: ein Verbrechen, das nicht aus Rache, Eifersucht oder Gewinnsucht begangen wird. In „Widrige Umstände“, Anastasijas nunmehr „sechstem Fall“, geht es jedoch in erster Linie um einen Auftragsmord, dessen Motive mehr als eindeutig sind. Der Name Raskolnikow gemahnt in diesem Zusammenhang eher daran, dass die besseren Kriminalromane – vgl. „Verbrechen und Strafe“ – oft die sind, in denen der Täter und nicht der Ermittler im Mittelpunkt steht: Marininas Serienheldin wird mit Sprachkenntnissen, mathematischer Begabung und geradezu albernen Verkleidungskünsten als Superpolizistin so überzeichnet, dass man über Anastasija gerade erschienenen „siebten Fall“ bzw. ihren „schwersten Fall“ nichts erfahren möchte.

Der Untersuchungsführer Ilja Borodin in Polina Daschkowas „Russische Orchidee“ ist da sympathischer. Er besitzt nur eine Fähigkeit, nämlich Verdächtige mit sanft bohrenden Fragen in die Enge zu treiben. Sein größtes Unglück ist, dass er bisher „keinen intelligenten Verbrecher vom Schlage eines modernen Rodion Raskolnikow“ getroffen hat. Auch der Tod des Fernsehmoderators Butejko schafft in dieser Hinsicht keine Abhilfe, doch Borodin ist ohnehin beinahe eine Nebenfigur. Es geht um die Suche nach einem legendären Diamanten, und Polina Daschkowa erzählt in ihrem breit angelegten und historisch unterfütterten Roman von habgierigen Politikern, korrupten Polizisten und brutalen Ex-KGB-Beamten, die Jagd auf den Edelstein machen. So zeichnet sie das Bild einer aus der Spur gelaufenen Zivilgesellschaft, in der jeder Bürger mit ein bisschen Einfluss „seinen Kriminellen hat, der hinter ihm steht“. Willkommen in Russland, dem Land, in dem ein Mord „ungefähr so viel wie ein ordentliches Auto“ kostet (Alexandra Marinina). Das sind natürlich gute Ausgangsbedingungen für einen Thriller. Trotzdem freut man sich, dass die erst dreißigjährige Anna Malyschewa mit „Tod in der Datscha“ einen schönen, ruhigen Kriminalroman geschrieben hat. Drei Giftmorde und ein Gemälde führen zurück zu einem zwanzig Jahre alten Mord.

Doch interessanter als die Rekonstruktion des Falles ist die Beschreibung des ganz normalen großstädtischen Lebens in Moskau, das vor allem von der Wohnungsnot beherrscht wird. Die Restauratorin Sascha zum Beispiel hat sich mit einer unvorsichtig ausgefüllten Meldebescheinigung auf ewig an ihren unerträglichen Mann gebunden. Eine Scheidung, erfährt man, würde zu nichts anderem führen als zu der Tatsache, dass sie nun unverheiratet weiter in einer Wohnung bleiben müssten. Auch das wäre ja beinahe schon ein Mordmotiv … KOLJA MENSING

Polina Daschkowa: „Russische Orchidee“. Aus dem Russischen von Margret Fieseler. Aufbau, Berlin 2003, 435 S., 20 €; Anna Malyschewa: „Tod in der Datscha“. Aus dem Russischen von Olaf Terpitz. btb, München 2003. 478 S., 9,50 €; Alexandra Marinina: „Widrige Umstände“. Fischer, Frankfurt am Main 2003, 285 S., 8,90 €