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Archiv-Artikel

Der Anti-Illies

Die Party ist vorbei, und das Leben muss jetzt ganz anders und viel bewusster weitergehen: Matthias Kalle gibt sich in seiner Generationsinspektion „Verzichten auf“ als selbstkritischer Bedenkenträger

von GERRIT BARTELS

Da hat sich der Verlag was Schönes ausgedacht, um den Inhalt eines Buches kongenial zu illustrieren. Auf dem Cover strahlt die Farbe Weiß, sonst nichts, und verschämt drücken sich oben links das Verlagslogo (blau) und unten rechts Autorenname (schwarz) und Titel (blau) auf dem Cover herum: Matthias Kalle. Verzichten auf. Zum Beispiel auf Inszenierung. Darauf einen Tusch: Schlichtheit ist wieder in the house, was natürlich Gründe hat.

So ist Matthias Kalles Büchlein „Verzichten auf“ zwar schon wieder eine der in den letzten Jahren beliebten und in diesem Herbst inflatiönär erscheinenden Generations-Inspektionen (Golf zwei, Z, „35“, das Handbuch der 35-Jährigen), geschrieben natürlich wieder von einem Journalisten und einem sehr jungen dazu: Kalle ist 1975 geboren.

Vor allem aber möchte Kalle doch mehr als nur seine Generation ausleuchten. Er will aufrütteln, Vorschläge machen, eine „Kritik der Verhältnissse“ probieren. Das alles verpackt in einer Art sentimentalen Reise, erzählt als eine „Geschichte des Verzichts“, „weil der Verzicht das ist, was mich ausgemacht hat und was mir eine Antwort liefern kann, mir und meinem Jahrgang und den Jahrgängen darüber und darunter. Also meiner – o Gott – meiner Generation.“

Fast könnte man auf die gewagte Idee kommen: Hier will jemand weg vom pseudogemeinschaftsstiftenden „Wir“! Doch auch Kalle glaubt fest an den repräsentativen Charakter seiner Lebensgeschichte, auch über seinem Buch schwebt das unsägliche Wir, nicht immer explizit, mehr so als Appell: Denkt nach, Leute! Befragt euch! Es geht also wieder um die Achtzigerjahre mit der NDW, mit ABC, Boris Becker, dem Turnschuhminister Fischer, Tschernobyl etc., um die Neunzigerjahre und ihren Dauerspaß, schließlich um die Nuller und ihre Krisen. Kalle versteht sich dabei als Dissident, der seine Lektionen gelernt hat und zumindest im Nachhinein den prägenden Einfluss von welt- und gesellschaftspolitischen Ereignissen auf sein Leben erkennen möchte: Der 9. 11. 1989 war für ihn der Beginn seines Leben, nun ja, der erste Verzicht, „der Verzicht auf den beruhigenden Glauben, dass es immer so weitergehen könnte“, In den Neunzigern ergab sich zwar auch für Kalle vieles, er wurde u. a. Jetzt-Redakteur, doch irgendwann zwischen 11. 9., dem Beginn der Wirtschaftskrise und dem dritten Golfkrieg, dämmert es ihm: „Ich wurde, was ich bin, weil ich darauf verzichtet habe, ein Anderer zu werden.“

So, so. Und dann schwurbelt er weiter und fächert sein Motiv des Verzichts weiter auf: der passive Verzicht (der junge Kalle), der aktive Verzicht (Kalle mit erhobenem Zeigefinger), das Unverzichtbare (der geläuterte Kalle). Matthias Kalle übt sich, ähnlich wie sein Mentor Christoph Amend mit seinem Buch „Die Jungen. Die Alten. Der Krieg“ im Gestus des selbstkritischen Bedenkenträgers, der seiner Generation ins Stammbuch schreibt: Gleichgültigkeit ist fatal, Ironie, Posertum, Kälte, Oberflächlichkeit, Florian Illies („ein talentierter Journalist, ein guter Autor“, aber …). Kalle ist der Anti-Illies, der erkannt hat, wie wichtig politisches Bewusstsein, Selbstironie, Haltung, Liebe, Tiefgang und nicht auf Nutella-Gläser beschränkte Erinnerungen sind, und er ist ein bisschen angry young man, der bei vielen „Pilserfrischungen“ (man möchte sie ihm irgendwann in den Ausschnitt kippen!) einhaut auf Lifestyle-Zeitschriften, Koksheinis und Immer-so-weiter-Macher.

Dafür dürfte er Anerkennung auch von Altvorderen einstreichen, damit liegt man nie falsch. Gerade wenn es um das Anklagen der Jammerkultur in Zeiten der Krise geht, aber auch um das, „worauf wir niemals verzichten dürfen“, ist Kalle oft genug dran an Kaffeesatzleserei und den Horoskop-Seiten von Glamour oder Men’s Health: Ausnahmsweise sind die Sterne streng. Schluss mit dem süßen Nichtstun. Raffen Sie sich auf und sorgen Sie jetzt für Ordnung. Dann geht es auch wieder aufwärts.

Aber egal. Gut, dass es raus ist, hat sich Kalle wohl gedacht, Klassensprecher zu sein ist besser als Hinterbänkler, und er schließt sein Buch ganz Lothar-Matthäus-mäßig: „Der junge Mann, 28 Jahre alt, hat seine Inventur beendet. (…) Wohin es geht, denkt er, ist eigentlich vollkommen egal, es spielt keine Rolle, es würde keinen Unterschied machen, wenn er das Ziel kennen würde.“ Gut, dass er mal drüber geredet hat. Ach wie gut, dass es den Kalle gibt.

Matthias Kalle: „Verzichten auf“. kiwi-taschenbuch, Köln 2003, 221 S., 8,90 €