Vertrautwerdungseffekte

Annäherungen an Istanbul: Das Festival Șimdi now brachte einige der aktuellen Highlights der türkischen Kulturszene nach Berlin und zeigte die Schnittstellen zwischen Orient und Okzident auf

Das Festival zeigte den Paradigmenwechsel in der türkischen Musikszene

VON DANIEL BAX

Gehört die Türkei zu Europa? Nun, sie nimmt an den europäischen Fußballwettbewerben teil und am Eurovision Song Contest. Und weil sie sich bei solchen Wettbewerben zuletzt mit wachsendem Erfolg behauptet hat, haben Interesse und Neugier auf das lange nur mit Dönerkultur identifizierte Land merklich zugenommen. Gerade hierzulande, wo auch der Berlinale-Erfolg von Fatih Akin für einen Wandel in der Wahrnehmung sorgte.

Ein guter Zeitpunkt also, mit einem großen Festival in Berlin die aktuelle türkische Kulturszene vorzustellen, wie sie sich vor allem in Istanbul konzentriert. Das jedenfalls war die Absicht des zehntägigen Șimdi-now-Festivals in Berlin, das an diesem Wochenende zu Ende ging. Schon im Vorfeld hatte man einen enormen Werbeaufwand betrieben, um die Stadt auf das Großereignis vorzubereiten. Als es dann so weit war, traf man allerorten auf türkische Studentinnen und Studenten in Șimdi-now-T-Shirts, die Handzettel verteilten oder Winkelemente schwenkten, vergleichbar mit den „MoMAnizern“ bei der MoMA-Ausstellung. So gelang es, innerhalb kurzer Zeit einen kleinen Hype zu kreieren.

Den Schwerpunkt bildete das Konzertprogramm, von Klassikpianisten bis hin zu Club-DJs. Im Vergleich dazu wirkte der Anteil an Literatur, Kunst und Film ein wenig wie angehängt, als bloße Dreingabe.

Brechend voll war es etwa beim Auftritt des Sufi-Ensembles von Kudsi Ergüner in der Passionskirche. Ergüner gilt als Virtuose auf der Ney, wie die lange Schilfrohrflöte heißt, die einst exklusiv den Sound der türkischen Derwisch-Bruderschaften prägte. Für Șimdi now hatte Ergüner Passagen aus Goethes „West-Östlichen Divan“ genommen, die er von zwei Muezzin-Sängern wie Gebetsrufe rezitieren und mit den mystischen Kompositionen des Mevlana-Ordens verweben ließ. Das klang zunächst reichlich bizarr, machte aber als transkulturelles Rück-Übersetzungsprojekt Sinn: Schließlich hatte sich Goethe für seinen „Divan“ einst auf die Dichtungen des persischen Sufi-Poeten Hafiz gestützt. Ein geglückter Entfremdungseffekt, der dem orientalischen Ornamentgesang einiges von seiner Fremdheit nahm. Oder wie sollte man das Gegenteil eines Verfremdungseffekts nennen?

Ebenfalls motiviert, eventuelle Verständnisbarrieren zu überwinden, zeigten sich auch andere Künstler. Zum Beispiel der Perkussionist Burhan Öcal, der bei Șimdi now im Großeinsatz war. Bei seinem großen Solokonzert im Tempodrom fiel zwar der angekündigte Stargast, der spanische Flamencogitarrist Paco de Lucia, krankheitsbedingt aus. Dafür wurden Burhan Öcal und sein traditionell gestimmtes Trakya-All-Stars-Orchester auf der Bühne von dem französischen Elektro-DJ Smadj unterstützt, der einige der balkanesken Tanzstücke der Band mit wuchtigen House- und Drum-’n’-Bass-Beats aus der Steckdose untermalte. In flüssigem Deutsch parlierend versuchte Burhan Öcal, der lange Jahre in der Schweiz gelebt hat, seinem nichttürkischen Publikum die Besonderheiten der ungeraden Rhythmen zu erläutern, von denen es einige gibt in der türkischen Folklore.

Bei seinem Auftritt zeigte sich der Saal gut durchmischt. Ansonsten aber gingen deutsches und türkisches Publikum bei Șimdi now nicht immer gleiche Wege. An der Anzahl der Fahrräder vor den Konzerthallen konnte man häufig ablesen, wie viele Deutsche in den Konzerten drinnen sein mochten. Vor allem bei den Konzerten der türkischen Popgrößen wie Sezen Aksu und Tarkan sorgte das türkische Publikum, das lieber mit dem eigenen Auto anreiste, für lange Staus und Warteschlangen.

Sezen Aksu empfand ihr Konzert offenbar als Heimspiel: Sie scherzte ausschließlich auf Türkisch mit dem Publikum. Ihren Auftritt inszenierte die Übermutter des türkischen Pop als eine Art Best-of-Revue und eröffnete ihn ganz nostalgisch mit Songs wie „Firuze“ und „Gülümse“, mit denen eine ganze Generation ihrer heutigen Fans in den Achtzigerjahren groß geworden sein dürfte. Etwas jünger war das Publikum dann am Samstag, als Tarkan zum Șimdi-now-Abschluss auftrat: In der Arena in Treptow präsentierte sich der türkische Sänger mit viel Feuerwerk und Knalleffekten als Popstar für die ganze Familie.

Auch wenn Popstars wie Tarkan und Sezen Aksu schon etwas länger dabei sind: Vor vier, fünf Jahren hätte man ein solches Festival wohl noch nicht veranstalten können. Denn erst in den letzten Jahren hat die Musikszene in Istanbul jene Evolution durchgemacht, die sie jetzt auf Augenhöhe mit den Trends der Zeit zeigt. Denn während die klassischen Konzerte bei Șimdi now noch von jener kulturellen Westbindung zeugten, die im türkischen Bildungsbürgertum tiefe Wurzeln hat, so deuten die vielen aktuellen Fusionprojekte auf einen Paradigmenwechsel hin: dass sich Konzepte wie Multikulturalismus und postmoderne Spielereien eben auch am Bosporus inzwischen durchgesetzt haben.

Davon zeugte auch der Auftritt der türkischen Band Baba Zula am letzten Abend des Festivals. Sie präsentierte sich im Hebbel am Ufer mit Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten am Bass – bis auf das Retro-Outfit getreu wie die Reinkarnation einer türkischen Krautrockband aus den Siebzigerjahren: Ihre orientalische Melodien mäanderten durch Gitarren- und Keyboardkrach, während im Hintergrund abgehackte Bauchtanzsilhouetten über die Leinwand flackerten: psychedelischer Postrock alla Turca.