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Archiv-Artikel

Aura in Schutt und Asche

Die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar war eine Ausnahme in der deutschen Bibliothekenlandschaft: Von Kriegen verschont bot sie eine Sammlung ohne Lücken. Seit dem Brand ist ihr Ruhm dahin

VON RALPH BOLLMANN

Die Feuilletons hatten am Wochenende ihr eigenes Drama. Während die Zeitungen auf ihren vorderen Seiten um die Toten des kaukasischen Schulmassakers trauerten, beweinten die Kulturaufmacher ein paar verbrannte Bücher. Von einer „nationalen Kulturkatastrophe“ war die Rede und von einem „unbeschreiblichen Verlust“.

Erst der Brand in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek lenkt die Aufmerksamkeit einer größeren Öffentlichkeit auf eine Institution, die bislang eher im Schatten des örtlichen Klassikrummels stand. Zu Unrecht. Denn mit der „Zentralbibliothek der deutschen Klassik“, wie sie zu DDR-Zeiten weit treffender hieß, besaß Weimar bislang eine der wenigen deutschen Bibliotheken von Rang, die von Kriegen und Katastrophen weitgehend verschont blieben.

Kaum ein Sektor des Kulturlebens in Deutschland trägt die Narben von Krieg und Teilung noch so sichtbar wie das Bibliothekswesen. Statt einer Nationalbibliothek besitzt die Bundesrepublik ein halbes Dutzend Bibliotheken von nationaler Bedeutung. Jede von ihnen leidet unter schmerzlichen Lücken. Die Bestände der Deutschen Bibliothek in Frankfurt und Leipzig reichen nur bis ins Gründungsjahr 1913 zurück, und die beiden großen Staatsbibliotheken in Berlin und München haben hunderttausende von Büchern im Zweiten Weltkrieg verloren.

Eine jahrhundertelange Kontinuität der historischen Bestände konnten dagegen nur zwei vergleichsweise kleine, aber hochkarätige Sammlungen bewahren: die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel und die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar. Dabei liegt die besondere Qualität der Weimarer Sammlung in ihrer engen Verzahnung mit dem Geistesleben der Stadt, das hierzulande noch immer den Referenzpunkt des kulturellen Gedächtnisses bildet.

Die Bedeutung dieser Bibliothek lag bis zum vergangenen Donnerstag in der ungebrochenen Kontinuität ihrer historischen Entwicklung. Nirgends sonst ließ sich der Zusammenhang von Lesen und Schreiben in der klassischen Epoche so exemplarisch ablesen wie hier. In einer Stadt, die ihren Ruhm der Produktion von Büchern verdankt, hätte die Bibliothek eigentlich der zentrale Gedächtnisort sein müssen.

So war es aber nicht. Die Touristen strömten lieber zu den Wohnhäusern von Goethe und Schiller, im Zweifel auch ins Nationaltheater. Den touristischen Prioritäten folgte auch die Reihenfolge der Sanierung. Während die genannten Gedenkstätten schon bald nach der Wende in frischem Glanz erstrahlten, ließ man sich mit der Bibliothek fast fünfzehn Jahre Zeit. Jetzt erhält sie mit einem neuen Magazin- und Benutzungsbereich endlich den angemessenen äußeren Rahmen. Zu spät: Seit dem Brand ist die besondere Aura dahin.

Erneut stellten die Weimarer Bürger jetzt ihre Verbundenheit mit der Kultur ihrer Stadt unter Beweis, die sie zuletzt beim erfolgreichen Kampf um die Existenz ihres Theaters gezeigt hatten. Spontan bildeten sie in der Brandnacht eine Menschenkette, um so viele Bücher wie möglich aus der brennenden Bibliothek ins neue Tiefenmagazin zu retten.

Bei so viel demonstrativer Kulturbeflissenheit vergessen die Bewohner freilich gern, dass Geschichte nicht nur aus Kontinuitäten, sondern auch aus Brüchen besteht. Das Weimar Liszts oder Nietzsches hatte mit dem Weimar Goethes und Schillers nicht viel zu tun, das Bauhaus markierte erst recht einen Neuanfang. Für den größten Bruch in der Geschichte der Stadt steht freilich das Konzentrationslager Buchenwald droben auf dem Ettersberg.

Dem Brand in der Anna-Amalia-Bibliothek fielen immerhin keine Menschen zum Opfer, sondern bloß Bücher. Den historischen Saal wird man wieder aufbauen, und vielleicht lässt sich auch ein Teil der Bücher wieder beschaffen. Schon sammeln die Weimarer eifrig Geld, damit alles so wird wie früher.

Die Frage ist nur, ob man das überhaupt wollen soll. Der Mensch müsse einfach akzeptieren, riet der Jenaer Philosophieprofessor Klaus-Michael Kodalle im Interview mit der Lokalzeitung, dass nichts im Leben sicher ist. „Wer das Unverhoffte aus seinem Leben verbannen möchte, der wird kleinkariert.“