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Archiv-Artikel

Reformen en détail

Diskussionen um eine Senkung oder Abschaffung der Lohnnebenkosten sind sinnlos: Arbeitnehmer müssen Vorsorge organisieren. Es geht um eine klügere Gestaltung

Wenn gering Qualifizierte gar nicht mehr vorsorgen, zahlt der Steuerzahler

Debatten um die „Lohnnebenkosten“ sind so beliebt wie verwirrend, da Lohnnebenkosten an ganz verschiedenen Stellen in der Diskussion auftauchen. Standardmäßig wird argumentiert, dass Arbeitgeber aufgrund der Zusatzbelastung durch die Lohnnebenkosten Arbeitsplätze wegrationalisieren. Aufseiten der Anbieter von Arbeitskraft wird vermutet, dass viele Menschen nicht bereit wären, Sozialhilfe für einen Arbeitsplatz zu tauschen, da der Nettolohn aufgrund der Sozialabgaben zu niedrig sei. Nur bei der Gesundheitsreform spielen Lohnnebenkosten eine positive Rolle: Um ihre Beiträge an die gesetzliche Krankenversicherung niedrig zu halten, hätten auch Arbeitgeber ein Interesse daran, dass die Kosten des Gesundheitswesens nicht ganz aus dem Ruder laufen.

Als Lohnnebenkosten werden diejenigen Bestandteile der Arbeitskosten bezeichnet, die der Arbeitnehmer nicht in Form von ausgezahltem Bruttolohn auf seinem Lohnstreifen sieht. Dazu zählen zum Beispiel Kosten, die durch Krankheit und Urlaub entstehen, und vor allem Kosten für betriebliche und staatliche Vorsorgesysteme. Wobei – bislang – die Hälfte der Gesamtbeiträge an die Arbeitslosen- und Rentenversicherung sowie an die Krankenversicherungen gehen. Dazu zahlt der Arbeitgeber 100 Prozent der Beiträge für die gesetzliche Unfallversicherung.

Lohnnebenkosten treiben ohne Zweifel die Arbeitskosten in die Höhe. Aber es stimmt nicht, was in Talkshows gelegentlich behauptet wird, dass zu den hohen Arbeitskosten in Deutschland noch Lohnnebenkosten hinzukämen. Denn in allen statistischen Berechnungen sind Lohnnebenkosten selbstverständlich in die Arbeitskosten hineingerechnet. Betrachtet man die Arbeitskosten, so erkennt man, dass sie in Deutschland in der Tat weltweit mit an der Spitze liegen – aber diese Entwicklung ist keineswegs bedenklich. Denn worauf es ankommt, sind nicht die Kosten allein, sondern das Verhältnis von Produktion und Arbeitskosten. Dieser Indikator wird „Lohnstückkosten“ genannt.

Da die Lohnstückkosten in Deutschland seit Jahren weniger stark gestiegen sind als bei den wichtigsten Wettbewerbern am Weltmarkt, haben dadurch deutsche Arbeitgeber trotz hoher Lohnnebenkosten einen Wettbewerbsvorteil erlangt. Der wurde durch Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften geschaffen. Denn bei Tarifverhandlungen wird immer über das Gesamtpaket der Arbeitskosten verhandelt, und die deutschen Gewerkschaften nehmen faktisch Rücksicht, wenn die vom Gesetzgeber verursachten Sozialversicherungsabgaben steigen.

Mittel- und langfristig werden die Arbeitgeberbeiträge von den Arbeitnehmern also aus eigener Tasche finanziert. Trotzdem wollen die Gewerkschaften den Arbeitgeberanteil der Sozialversicherungsabgaben nicht abschaffen, weil durch den Arbeitgeberbeitrag für Arbeitnehmer kurzfristig ein Vorteil entstehen kann: wenn nämlich die Sozialversicherungsbeiträge in nicht absehbarer Weise steigen, so etwa durch Beitragserhöhungen einzelner Krankenkassen. Dann tragen die Arbeitgeber die Hälfte des Anstiegs – wenn auch nur so lange, bis wieder Tarifverhandlungen stattfinden.

Aufseiten der Arbeitnehmer haben die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt deutlich gravierendere Auswirkungen als aufseiten der Arbeitgeber. Da die meisten Arbeitnehmer die Sozialversicherungsbeiträge nicht als Investition in eine Versicherung empfinden, sondern als eine Art zusätzlicher Steuer, entsteht durch Lohnnebenkosten ein Anreiz zur Schwarzarbeit. Bei Erwerbspersonen mit niedriger Qualifikation kann diese Abgabe sogar dazu führen, dass der Nettolohn, der ausgezahlt würde, niedriger wäre als die Sozialhilfe beziehungsweise künftig das Arbeitslosengeld II. Dadurch wird Arbeitslosigkeit verfestigt.

Selbst eine totale Abschaffung der Sozialversicherungen würde nicht viel bringen – denn Arbeitnehmer müssten ja nach wie vor Zukunftsvorsorge betreiben. Sie müssten privat vorsorgen, und das würde sie im Schnitt ungefähr so viel kosten wie die jetzige „soziale“ Sicherung. Das Geld dafür würde langfristig über höhere Löhne finanziert werden, und die Arbeitskosten würden nicht absinken.

Auf der anderen Seite wären auch das Vorsorgeproblem und das dadurch verursachte Problem eines zu niedrigen verfügbaren Einkommens durch die Abschaffung der Sozialversicherungen nicht gelöst. Nur dann, wenn gering Qualifizierte gar nicht mehr vorsorgen würden und sich im Krankheitsfall auf die Sozialhilfe und später noch auf die Grundsicherung im Alter zurückzögen, würde ihr verfügbares Einkommen steigen – auf Kosten des Steuerzahlers.

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als mit den Lohn-„neben“kosten zu leben, da das dahinter stehende Vorsorgeproblem nicht zu umgehen ist. Wir können nur versuchen, Vorsorge und damit zusammenhängende Kosten klüger zu gestalten. Ein bloßes „Einfrieren“ der jetzigen Arbeitgeberbeiträge oder die „Auszahlung“ an die Arbeitnehmer reicht nicht aus, denn die Arbeitnehmer werden ihre Vorsorgekosten natürlich bei Tarifverhandlungen präsentieren und langfristig auch entsprechende Lohnerhöhungen durchsetzen.

Das Problem der Schwarzarbeit und das Anreizproblem sind durch Einfrieren oder Auszahlung der Arbeitgeberbeiträge offenbar nicht zu lösen. Arbeitnehmern ist egal, ob ihr Arbeitgeber oder sie selbst Abgaben zahlen. Hier helfen nur Kombilohnmodelle, die für gering Qualifizierte Lohnzuschüsse vorsehen, die Beschäftigung für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber wieder lohnend machen. Nur insoweit es möglich ist, die Vorsorge nicht mehr unmittelbar an das Arbeitsverhältnis zu koppeln, wird die enge Verbindung zwischen Beitragszahlung und Arbeitskosten gebrochen. Bei der Arbeitslosenversicherung ist das nicht möglich, bei der Altersvorsorge nur begrenzt – für die Kranken- und Pflegeversicherung geht es.

Mittel- und langfristig finanzieren die Arbeitnehmer schon längst die Arbeitgeberbeiträge

Eine Bürgerversicherung, die das bisherige Beitragssatzsystem belässt, würde an der engen Kopplung der Krankenversicherungsbeiträge und der Arbeitskosten wenig ändern. Will man wirklich etwas erreichen, müssten die Krankenversicherungsbeiträge als Pauschalen gezahlt werden. Nur dann würden nicht bei jeder möglichen Neueinstellung die Arbeitskosten automatisch um den Krankenkassenbeitrag steigen. Das wäre für die Arbeitsplatzentwicklung hilfreich – ohne freilich Wunder zu bewirken. Zudem müsste ein steuerfinanziertes System des sozialen Ausgleichs geschaffen werden, das auch wiederum Nebenwirkungen hätte. Auf jeden Fall aber würde durch Pauschalbeiträge die Entwicklung des Gesundheitswesens, das eine nachhaltige Wachstumsbranche ist, nicht mehr gehemmt, weil durch Verbesserungen der medizinischen Leistungen die Lohnnebenkosten unmittelbar steigen.

Fazit: Wir sollten aufhören, pauschal über Lohnnebenkosten zu debattieren. Es gilt, die Strukturen der einzelnen Sicherungssysteme im Detail zu betrachten – und dann zu reformieren.

GERT G. WAGNER