: Keine Aufklärung erwünscht
Dem Kreml liegt nicht an einer Untersuchung der Geiselnahme von Beslan. Berichte über Bestechung von Sicherheitskräften durch Geiselnehmer
AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH
Zwei Tage nach dem missglückten Sturm auf die Schule Nummer 1 wurden gestern auf dem städtischen Friedhof in Beslan die ersten 50 Opfer beigesetzt. Wie viele Opfer die Aktion insgesamt forderte, ist weiter unklar. Offiziell melden die Behörden, 335 Menschen seien ums Leben gekommen. Unabhängige Quellen schätzen die Zahl auf mindestens 500 bis 600. Laut Agenturberichten befinden sich allein im Leichenhaus in Wladikawkas 394 Tote.
Noch immer werden 260 Menschen vermisst, die meisten von ihnen Kinder. Mütter und Väter irrten laut Augenzeugen auch gestern noch mit Kinderfotos durch die Stadt, in der Hoffnung, irgendjemand könnte einen Hinweis geben. Niemand kümmert sich um sie. Die Staatsmaschine ist damit befasst, die Trümmer und Beweise ihres Versagens so schnell wie möglich zu beseitigen.
Die Tragödie hat Russland erschüttert. Hart hat die Gesellschaft die plötzliche Erkenntnis getroffen, dass Russland weder stabil ist noch sich in sicheren Händen befindet. Die Geiselnahme soll angeblich erst möglich geworden sein, weil die Terroristen Ordnungskräfte bestochen haben. Dies melden die unabhängigen Berichterstatter der Internetseite Gazeta.ru. Befreite Geiseln wollen demnach von den Terroristen erfahren haben, dass diese sich den Weg nach Beslan freigekauft hatten. Eigentlich wollten die Geiselnehmer, in einer größeren Stadt, wahrscheinlich in Wladikawkas, der Hauptstadt Nordossetiens, zuschlagen. Die Schmiergeldforderungen der Polizei seien aber zu unverschämt gewesen. So seien sie in Beslan gelandet. Gegenstandslos sind diese Informationen sicherlich nicht: Präsident Putin selbst ließ diesen Verdacht im Gespräch mit dem Krisenstab in Nordossetien anklingen.
Vor einer schonungslosen Aufklärung der blutigen Befreiungsaktion schreckt die russische Führung aber zurück. Der Geheimdienst UFSB in Nordossetien bleibt bei der ursprünglichen Version: Ein Sturm sei nicht geplant gewesen. Das Durcheinander auf den Straßen, das am Freitag bis in die Nacht anhielt, scheint das zunächst zu belegen. Erst elf Stunden nach dem Sturm gelang es Spezialeinheiten, den letzten flüchtigen Terroristen auszuschalten. Dennoch weichen die Angaben über die Zahl der Terroristen selbst in offiziellen Berichten ab, die Staatsanwaltschaft nannte zunächst 26, der Krisenstab über 30, gestern waren es schon 35. Vermutlich konnten einige noch entkommen.
Nach offizieller Darstellung bargen Katastrophenschützer gegen 13.04 Uhr zwei Leichen vor der Schule, als eine starke Detonation das Dach des Gebäudes zum Einsturz brachte. Geiseln flohen Hals über Kopf ins Freie und wurden von den Geiselnehmern beschossen. Daraufhin hätte der Stab den Befehl zum Einsatz gegeben. Unverständlich ist indes, warum Terroristen Katastrophenschützern die Bergung von Leichen gestatten sollten und im selben Moment in der Schule einen Sprengsatz zünden.
Nach Darstellungen von Geiseln gegenüber Gazeta ist die Detonation der Bombe in der Sporthalle nicht absichtlich ausgelöst worden. Der Sprengsatz habe an einer zwischen zwei Basketballkörben befestigten Leine gehangen und sei plötzlich heruntergefallen und explodiert. Die Washington Post beruft sich auf einen Mitarbeiter der Spezialeinheit, nach dessen Angaben das Sturmkommando die Bombe selbst auslöste: „Unsere Leute haben die Bombe irrtümlich getroffen“, sie sei explodiert und hätte die anderen Sprengsätze gezündet. Daraufhin sei das Dach an mehreren Stellen eingebrochen und auf die Menschen heruntergestürzt.
Trifft dies zu, müssen Leichenbergung und Einsatzbefehl parallel verlaufen sein. Den Befehl zum Einsatz erhielt aber nur die Sturmtruppe der Alpha-Einheit. Nordossetiens Ordnungskräfte, die für Sicherheit auf der Straße zu sorgen hatten, waren anscheinend nicht eingeweiht worden. Das würde das heillose Durcheinander in den Straßen Beslans erklären.
Am Freitagmorgen hatte Aleksander Dsasochow, der Präsident Nordossetiens, bangenden Eltern noch versprochen, eine gewaltsame Befreiung sei nicht vorgesehen, vielmehr stünden langwierige Gespräche mit den Geiselnehmern bevor. Aufgewühlte Angehörige hatten gedroht, eine lebende Wand zu bilden, sollte der Kreml den Sturm auf die Schule anordnen.
Nicht auszuschließen ist, dass sich die nordossetischen Sicherheitskräfte mit den verzweifelten Eltern solidarisiert hätten. Denn auch ihre Angehörigen werden unter den Geiseln gewesen sein. Zumindest waren die Kinder des Abgeordneten Wolodja Chodorow und des Regierungsmitglieds Mansurow in der Schule. Gerettete Geiseln berichteten, die Direktorin der Schule hätte nach der Geiselnahme regelmäßig versucht, gerade mit diesen beiden Familien telefonisch Kontakt aufzunehmen. Vergeblich, niemand hat sich im Laufe der zwei Tage gemeldet. Auch das gibt Rätsel auf.
Wenn die Nordosseten nicht informiert waren, weil sie den Einsatz des Sturmtrupps nicht behindern sollten, erklärt sich auch, warum zum Zeitpunkt des Sturms nicht genügend Krankenwagen zur Verfügung standen und die Abtransportwege blockiert waren. Der Einsatzstab handelte in der Absicht, kein Misstrauen unter der Bevölkerung zu schüren. In Russland ist bisher noch niemand wegen fahrlässiger Tötung zur Rechenschaft gezogen worden, wenn er sich darauf berufen konnte, im Interesse des Staates gehandelt zu haben. Dies wissen die Verantwortlichen und agieren daher oft ohne jede Rücksicht auf potenzielle Opfer.
Die Befreiung der Geiseln im Musical-Theater Nord-Ost im Herbst 2002 verlief im Anfangsstadium ähnlich. Auch hier sprengten Sicherheitskräfte zunächst ein Loch in die Mauer. Auch damals behauptete der Krisenstab, die Erstürmung hätte spontan begonnen, da die Terroristen Geiseln erschossen hätten. Danach stellte sich heraus, dass gar niemand getötet worden war. Wladimir Putin hatte stattdessen den Angriff befohlen. Anders als in Beslan war der Einsatz in Moskau indes nach zwanzig Minuten vollendet, wenn auch das eingesetzte Betäubungsgas eine verheerende Wirkung entfaltete.
Dass in Beslan ein Sturm geplant gewesen sein muss, geht aus vielen Augenzeugenberichten aus dem Innern der Schule hervor. Unklar bleibt der geplante Zeitpunkt? Krisenstab und politische Führung in Nordossetien, berichten Geiseln, hätten in den 54 Stunden keinen Kontakt zu den Terroristen hergestellt. „Diese haben vor unseren Augen angerufen, aber keiner wollte mit ihnen reden“, sagte eine Salina gegenüber Gazeta. Kein offizieller Vertreter wollte die Forderung der Geiselnehmer entgegennehmen. Diese bestand nur aus einem einzigen Punkt: Putin sollte die Truppen aus Tschetschenien abziehen oder zurücktreten. Als der ehemalige Präsident Inguschetiens, Ruslan Auschew, aus eigener Initiative am Donnerstag 26 Geiseln freihandeln konnte, nahm er das für Präsident Putin bestimmte Video mit. Er versprach, in zwei Tagen mit einer Antwort zurückzukommen. Danach hätten die Terroristen aber begriffen, dass die Verantwortlichen zu Verhandlungen nicht bereit seien und ein Sturm unmittelbar bevorstünde. „Euer Schicksal ist den Mächtigen egal“, sollen sie zu den Geiseln gesagt haben.
Die Präsidenten Nordossetiens und Inguschetiens, mit denen die Terroristen verhandeln wollten, sollen angeblich weder versucht haben, mit ihnen zu sprechen, noch waren sie zu erreichen, weil die Telefone abgeschaltet waren.
In der Darstellung des Krisenstabes klang dies tagelang anders. Demnach hatten die Terroristen Gespräche abgelehnt und die Telefonverbindungen unterbrochen. Das widerspricht allerdings bisherigen Erfahrungen bei Geiselnahmen.
Dass der Krisenstab bewusst die Wahrheit zurückhielt, stellte sich unmittelbar nach der Geiselbefreiung heraus. Statt 350 Geiseln waren 1.180 Menschen in der Schule eingeschlossen. Verantwortliche räumten dies einen Tag nach der Tragödie kleinlaut ein.
Dennoch versuchen die Behörden weiter, Informationen zu unterbinden. Behandelnde Ärzte in Nordossetien dürfen die Kliniken seit Freitag nicht mehr verlassen. Es wurde ihnen auch untersagt, mit Angehörigen über das Geschehen zu sprechen, und ihre Mobiltelefone wurden konfisziert. Familienmitglieder von Geiseln klagten, sie würden von der Polizei nicht zu den Verletzten vorgelassen. Das ist in Russland nach Anschlägen und Katastrophen, die auf Staatsversagen zurückzuführen sind, häufig der Fall.
Hochrangige Vertreter aus Moskau waren die ganze Zeit vor Ort, unter ihnen auch der Chef des Geheimdienstes FSB, Nikolai Patruschew. Sie zeigten sich aber nicht in der Öffentlichkeit, örtliche Kräfte wurden beauftragt, Russlands größte Sicherheitskrise zu meistern. In seiner Rede an die Nation kündigte Präsident Putin vorgestern einschneidende Maßnahmen bei der Reorganisation der Sicherheitsstrukturen an. Die kann nur dann effektiv verlaufen, wenn auch die oberen Ränge ausgewechselt werden. Darauf gibt es aber keine Hinweise. So müssen sich die zu Reformierenden selbst reformieren und alles bleibt wie gehabt.