Die seltene Chance zur Entschärfung


aus Berlin ANTJE LANG-LENDORFF

Eine uralte Geschichte: Irgendwo auf einer Ebene am Ägäischen Meer hütet der schöne Ganymed nichts ahnend seine Schafe. Plötzlich stößt ein Adler herab, greift ihn auf und bringt ihn zu Zeus auf den Olymp. Der Gottvater will dem Knaben – angeblich der schönste aller Menschen – nicht länger widerstehen. Ganymed muss von nun an am Tisch der Götter Wein ausschenken und Zeus als Geliebter dienen. Warum verliebte sich Zeus ausgerechnet in ein Kind? Wie hat sich der Junge dabei gefühlt?

Fragen, die Zeus sich nie stellen musste, und vermutlich liegt es auch daran, dass viele Pädosexuelle sich heute gern auf die griechische Sagenwelt berufen: Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, wollen gewöhnlich nicht mit den verheerenden Folgen ihres Tuns konfrontiert werden.

Bohrende Fragen

In dem schlichten Raum herrscht Büroatmosphäre. Die acht Männer, die im Kreis sitzen, haben keinen göttlichen Mythos zur Hand. Jeder von ihnen hatte etwas mit Kindesmissbrauch zu tun. In der so genannten Tätergruppe der Berliner Organisation Kind im Zentrum, KiZ, eine Einrichtung des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes, erzählen sie ihre Geschichte und müssen sich dabei bohrenden Fragen der beiden Therapeuten und der anderen Männer stellen.

Richard Barnes*, ein 61 Jahre alter Amerikaner, der zurzeit eine Haftstrafe verbüßt und Freigang hat, ist an der Reihe. Der kleine Mann mit Bart und Bauch hat ein bewegtes Leben hinter sich. Von der Sinnlosigkeit des Vietnamkrieges kam er in die britische Friedensbewegung, vom Studium der Psychologie in Berlin in die 68er-Bewegung. Nach einer langjährigen Ehe trennte sich Anfang der 90er-Jahre seine Frau von ihm. Kurz darauf fand er als Psychologe eine Stelle in einer Berliner Kirchengemeinde.

„Ich war völlig vereinsamt und stürzte mich in die Arbeit mit den Jugendlichen“, sagt er. Mit der Familie der 13-jährigen Konfirmandin Isabel* verstand er sich besonders gut. Er ging ein und aus im Haus des wohlhabenden Rechtsanwalts. „Isabel und ich waren bald unzertrennlich“, erzählt er und schildert die Probleme innerhalb der Familie des Mädchens. Die Unfähigkeit der Eltern, das Kind zu erziehen. Die Vergewaltigung der Großmutter durch den Vater.

Die Männer im Kreis werden unruhig. „Ick als normaler Bürger versteh dich nich mit deiner Romansprache. Was war denn nun mit der Isabel, sag doch ma deutlich“, beschwert sich ein Möbelträger, der aussieht, als pfeife er Frauen hinterher. Auch dem sensiblen Christian Frehse* gehen Barnes’ Ausführungen zu weit: „Du lenkst immer ab, das ist anstrengend“, sagt er. Barnes weist ihn zurecht: „Warte auf die Pointe.“ Frehse regt sich auf. „Sprich doch mal von dir und nicht von anderen.“

Das tut Barnes. Er habe sich in Isabel verliebt. Das Alter, die Grenzen seien verschwunden. „Ich war für sie ein Teddybär, ein Mittel, um von den mächtigen Eltern freizukommen. Sie war für mich wie die erste Liebe. Sie hat mir Jahrzehnte des Lebens zurückgegeben.“ Therapeut Jürgen Lemke greift ein. „Richard, das Mädchen war 13. Warum haben Sie sich denn gerade in ein Kind verliebt?“ Barnes sagt, er sei vereinsamt und überarbeitet gewesen. Er habe das Mädchen idealisiert. „Sie war ein Ersatz für meine Frau. Sie hat mich sogar an sie erinnert.“ Die anderen im Kreis empfinden das als Ausrede. Sie alle sitzen hier, weil Kinder sie erregen. Dazu hat sich Barnes noch mit keinem Wort bekannt.

Barnes weiß, dass er sich nicht mit einer 13-jährigen Schutzbefohlenen hätte einlassen dürfen. Ein gewisses Verantwortungsgefühl gegenüber dem Opfer ist Voraussetzung für die Teilnahme an der Gruppe. Um vor sich selbst bestehen zu können, konstruieren sich Pädosexuelle oftmals eine Welt, in der auch Kinder sexuell begehren. „Es gehört dazu, dass die Betroffenen ihren eigenen Wunsch in das Bedürfnis des Kindes umfunktionieren“, beschreibt der Therapeut Lemke seine Erfahrungen. Das Ungleichgewicht in der Beziehung werde dabei geleugnet, der Schaden der Opfer bagatellisiert. Dieses Konstrukt aus den Köpfen der Männer zu vertreiben, daran arbeiten Lemke und seine Kollegin. In den Sitzungen versuchen sie, die Perspektive des Kindes klar zu machen.

Christian Frehse, der Sensible in der Gruppe, hat selbst eine Tochter und einen Sohn. Wenn sie zur Schule gehen, sagt der 43-Jährige, kämpfe er gegen die Angst an, es könnte sie jemand entführen und missbrauchen. Vor drei Jahren musste er sich eingestehen, dass er selbst pädosexuelle Neigungen hat.

Christian Frehse war noch nie ein Durchstarter. Seit seiner Jugend litt er unter Depressionen. Nachdem er das Informatikstudium abgebrochen hatte, ließ er sich als technischer Zeichner ausbilden und bekam eine ABM-Stelle. Die Arbeit langweilte ihn. Seine Ehe lief schlecht. „Schon früher hat es mich erregt, wenn Kinder mich zufällig, zum Beispiel im Bus, berührten, ich habe mir nur nichts dabei gedacht“, erzählt er. Nach und nach begann er, mit Mädchen zu fantasieren, wenn er onanierte. Kinderpornoseiten im Internet habe er nicht gefunden. „Dazu hab ich mich zu blöd angestellt.“ In Gedanken schlief er mit den Töchtern von Bekannten, die Mütter halfen ihm dabei.

„Wenn ich jetzt Geld hätte, würde ich nach Thailand fliegen und ein Mädchen missbrauchen“, habe er irgendwann festgestellt. Das war der Anlass, sich einem Therapeuten anzuvertrauen. Das Problem lag auf der Hand: „Ich war da, meine Sexualität war da. Ich wollte eine erfüllte Sexualität, aber niemandem wehtun.“ Seitdem lässt Frehse seinen Fantasien keinen freien Lauf mehr. „Lüstling“, habe er sich gesagt, „du darfst von Männern träumen, von Frauen, von Gruppensex, das ist keine Sünde. Aber von Kindern träumen darfst du nicht.“ So könne er seine sexuellen Energien inzwischen umleiten.

Seit knapp zwei Jahren lebt er von seiner Frau getrennt. Am Wochenende passt er auf die Kinder auf. Frehses Frau weiß bis heute nichts von seiner pädosexuellen Neigung. Auch den Freunden hat er nichts erzählt. Er hat Angst davor, entdeckt und als Kinderschänder verschrien zu werden. Angst vor gesellschaftlicher Ächtung, vor der Wut, die sich gegen ihn richten könnte.

Wie viele Menschen gibt es, die wie Frehse mit ihrer Pädosexualität im Verborgenen leben? Die Zahl der letzte Woche ausgehobenen, verdächtigten Kinderporno-Nutzer im Netz, weltweit 26.500, spricht für sich. Normalerweise kommen nur die Übergriffe an die Öffentlichkeit: Im Jahr 2002 wurden wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern allein in Berlin 844 Anzeigen erstattet. Die Polizei schätzt die Dunkelziffer auf das Sechsfache. Aber öffentliche Anlaufstellen explizit für Pädosexuelle gibt es außer KiZ in der Haupstadt kaum. Kein Wunder, dass sich Pädosexuelle im Untergrund organisieren.

Selbst organisierte Gruppen

Glaubt man den Angaben eines Pädosexuellen, gibt es in Berlin über zehn Gruppen, die unter dem Namen Anonyme Sex- und Liebessüchtige laufen. Sie nennen sich Selbsthilfegruppen. Was dort besprochen wird, lässt sich nur schwer recherchieren. Ein Teilnehmer berichtet, dass über die eigene Sexualität, über Kinder und Missbrauch offen diskutiert würde. Hunderte kommen angeblich regelmäßig zu den Treffen. Einlass hat nur, wer von einem der Teilnehmer mitgebracht wird.

Die AG Pädophilie, eine der ältesten der Gruppen für Pädosexuelle, funktioniert nach dem Konzept der Anonymen Alkoholiker. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die Mitglieder müssen nicht abstinent sein. Nach Ansicht von zwei Teilnehmern ist es für das Kind schädlich, sexuellen Kontakt zu Erwachsenen zu haben, wenn es sich in einem institutionellen Abhängigkeitsverhältnis befindet, sei es in der Familie, in der Schule, in einer Jugendgruppe, von Gewaltanwendung ganz abgesehen. „Wenn aber der Junge jederzeit gehen kann, und er kommt trotzdem immer wieder, kann das, was passiert, nicht ganz schrecklich sein“, meint ein Mitglied.

Tickende Zeitbomben

Wenn Therapeut Lemke das hören könnte, er würde wieder eingreifen und danach fragen, was denn mit der psychischen Abhängigkeit der Kinder ist – etwa wenn sich sonst niemand kümmert.

Das ist das Problem der selbst organisierten Gruppen: Da die Pädosexuellen unter sich sind, bestätigen sie sich gegenseitig in der Vorstellung, die Kinder profitierten von der Beziehung zu ihnen. Kein Therapeut greift ein. „Uns fehlt manchmal der Blick von außen“, gibt ein Germanistikstudent aus der AG Pädophilie zu.

Immerhin können auch selbst organisierte Gruppen den Effekt haben, dass Pädosexuelle sich aussprechen. Richard Barnes aus der KiZ-Gruppe nennt Pädosexuelle, die alles in sich hineinfressen, „tickende Zeitbomben“, aus denen irgendwann ihr Trieb unkontrolliert herausplatzen kann – mit Folgen, die man aus den Schlagzeilen der Boulevardpresse kennt.

Bei KiZ passiert beides: Die Männer können sich aussprechen, und ein Therapeut setzt sich mit ihnen auseinander. So auch Barnes. Trotz mehrerer Nachfragen bestreitet er, Mädchen sexuell attraktiv zu finden. „Für wat wurdeste ’n dann verurteilt?“, wundert sich der Möbelträger. Barnes erzählt weiter: Isabel habe ihn irgendwann langweilig gefunden und fallen gelassen. Die Eltern schöpften Verdacht, die Kirchengemeinde zeigte ihn nicht an, schmiss ihn aber raus. Er habe versucht, sich umzubringen, sagt er. Jahre später arbeitete er für ein Berliner Bezirksamt – wieder mit Jugendlichen. Isabels Tagebücher wurden gefunden. Es kam zum Prozess, die Richter verurteilten ihn wegen sexuellen Missbrauchs von Isabel und eines jüngeren Kindes zu drei Jahren Haft.

*Namen geändert