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Archiv-Artikel

Sexueller Notstand kann so nett sein

Mal unschuldig, mal huldvoll bezaubernd, mal polymorph pervers: Christina Aguilera führt auf ihrer Deutschlandtournee ihren Wandel vom Teeniestar zur Künstlerin vor. Sie will nicht nur die bessere Britney, sondern auch gleich die bessere Madonna sein!

Sie ist Rockerbraut, Gruftiebraut – und dann plötzlichwieder ganz ladylike

von CHRISTIANE RÖSINGER

Es soll schlechte Laune im Vorfeld gegeben haben; die Berlin- Arena war nicht ausverkauft, das Management war verärgert, man sagte alle Promotermine in Berlin ab. Aber all das ließ sich Christina Aguilera nicht anmerken, als sie am Montagabend auf die Bühne des Velodroms kam. Und ihre treuen Fans hat das auch nicht gekratzt. Tausende kleine und größere Mädchen hatten sich schon Stunden vorher sinnvoll mit La-Ola-Inszenierungen, Gesängen und Gekreische beschäftigt, hatten die Darbietungen der Vorband gnädig geduldet und sich ganz der freudigen Erwartung ihres Superstars hingegeben.

Für den Wandel vom Teeniestar zur Künstlerin wurde bei Christina Aguilera einiges investiert. Mit dem verruchten Video zu „Moulin Rouge“ fing es an, dann wurde Christina ganz schmutzig. Zu „Dirty“ wurde ein softpornografisches Video gedreht, das in USA prompt zensiert wurde. Im Streit mit Kelly Osbourne – die in der Fernsehserie „Die Osbournes“ weiterhin beherzt auf ihr herumhackt – hat die 22-jährige Christina schon innere Reife bewiesen und die Ausfälle der jüngeren Kelly im Spiegel als pubertätsbedingte Hollywoodgirl-Ausrutscher verziehen. Sie selbst, soll das wohl heißen, ist über so etwas längst hinaus – bloß keinen Rückfall in zickenhafte Teeniezeiten mehr!

Dann Licht aus, Spot an, und da steht sie: die Bühne. Das massive Gestänge einer kleineren Achterbahn, mit eingebauten Ventilatoren und zwei offensichtlich einer Schiffsreling nachempfundenen Höhenpodesten. Aus einem Stahlgeflecht lösen sich die Tänzer, formieren sich zur Körperpyramide, daraus löst sich wiederum Christina und singt „Dirty“. Und was soll man sagen? Die Tänzer tanzen feurig. Die Sänger singen beseelt. Die Kostüme sind bunt und schön. Wie ein rasantes Musicalmedley aus „Grease“, „West Side Story“ und „Moulin Rouge“ nimmt die Show ihren Lauf. Wenn Xtina – wie sich Christina ja neuerdings häufiger mal nennt, weils dreckiger klingt – sich umziehen muss, gibt es furiose Latino-Tanzeinlagen oder Videoschnipsel, und sie zieht sich oft um. Sie ist Rockerbraut, Gruftiebraut im schwarzen, zerfetzten Ledermantel, sie lehnt sich freizügig in Netzstrümpfen an den Maschendrahtzaun, ruht ladylike im Anzug auf dem Piano.

Durch die schwarz gefärbten Haare und das etwas fülligere Gesicht ähnelt Dirty Xtina dabei aber seltsamerweise Iffi Zenker aus der „Lindenstraße“ ganz frappant. Ihr aktuelles Video „Can’t hold us down“, das mit einigem guten Willen als ein Aufruf zur Frauensolidarität gegen männliches Dominanzgebaren interpretiert werden könnte und in einem pittoresken Schwarze-Neighbourhood-Setting spielt, wird live in einer Buben-gegen-Mädchen-Choreografie dargestellt. Christina singt auch live wirklich großartig, und sie singt mit ihren Fingern! Sie spielt die Gesangstöne auf ihrem Mikrofon wie auf einer Flöte, lächelt huldvoll bezaubernd dazu und baut im Gespräch mit dem Publikum immer wieder ein atemlos-schüchternes „uuh“ ein.

So wechseln sich Jubel und Ergriffenheit beim Publikum ab, nur die expliziten Sexszenen kommen bei den jungen Zuschauern mit den Piratenkopftüchern und der H-&-M-Kindermode nicht so gut an. Christina findet Sex natürlich gut und macht gern sexy Videos. Das heißt, sie eignet sich pornografische Bilder an und bezeichnet dies dann als Ausdruck der eigenen Sexualität. Aber wer kann in der fortlaufenden Bitchisierung und Pimpisierung des Musikgewerbes und seiner Bilderwelten schon noch eigene Bilder von Sexualität finden, ohne bei der Stripperin und der Nutte zu landen?

So ist der Sexteil der Bühnenshow polymorph pervers gehalten, da führt man sich gegenseitig auf allen vieren im Fetischoutfit an der Leine spazieren, da wird die Sängerin festgekettet und von Männern mit Gummimasken beschnüffelt. Manche choreografischen Ideen geben Rätsel auf: So windet sich ein oberkörperfreier Tänzer mal als Schattenriss, mal sichtbar an einer Stange, täuscht in arger Sexualnot Geschlechtsverkehr mit einem Stuhl an, zieht aus lauter Verwirrung Christinas hässlichen rosafarbenen Hut auf und trollt sich nach einem halbherzigen Stripp offensichtlich sexuell frustriert mit heruntergelassener Hose von dannen.

Ganz am Schluss kommt dann wieder die liebe Christina in T-Shirt und Jeans auf die Bühne, setzt zuerst a cappella zu ihrem großen Anti-Hate-Speech-Hit an, und siehe, das Publikum singt das nicht gerade einfache Lied fehlerfrei mit. Dann setzt die Band ein und die großen Balladengefühle nehmen ihren Lauf. „You are beautiful, no matter what they say.“

Ach Christina! Oder Xtina! Du bist doch wunderbar, die bessere Britney, die bessere Madonna, ein goldiges Persönchen, ein feiner Mensch!