Sign O‘ the Times

DAS SCHLAGLOCH von RENÉE ZUCKER

Anders als wir haben Inder einfach zu viel mit Überleben zu tun, um sich groß zu ärgern

Können Inder einsam sein? Diese Frage ist vermutlich so wenig zu beantworten wie die, ob Androiden von elektrischen Schafen träumen. Zumindest für Nicht-Inder und Nicht-Androiden. Natürlich können Inder einsam sein. Wenn sie allein mit dem Zug fahren, wenn gerade niemand im Haus ist, wenn sie auf einer von zwei Treppenstufen schlafen. Wenn Inder allein sind, sind sie einsam, sagt Riyaz. Aber sind sie auf die gleiche Weise einsam wie ein Berliner oder ein Römer?

Ich hatte Riyaz, bevor wir uns in Bombay trafen, eine Nachricht geschickt, dass ich nicht, wie verabredet, mit ihm telefonieren wollte, weil mir gerade nicht nach Reden sei. „Ihr Europäer seid wirklich komisch“, sagte er später. „Wenn ich hier sagen würde, ich will jetzt nicht reden oder ich will allein sein, dann müsste ich drei Stunden lang allen möglichen Leuten versichern, dass ich nicht krank bin. Da lass ich es lieber gleich.“ Wir lachen. „Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt jemals diesen Wunsch hatte“, fügt er nach längerem Nachdenken hinzu.

Riyaz ist ein junger Mann von 29 Jahren, vielleicht hat man da andere Wünsche. Mit seinem Boss steht er tagsüber in dessen Laden und nachts teilen sie ein kleines Hotelzimmer. Wenn er zu Hause in Kaschmir ist, schlafen alle Mitglieder seiner Familie in einem Raum. Ich erinnere mich, wie schockiert ich nach dreimonatiger Reise durch Südindien über die Leere auf den Straßen Berlins und die offensichtliche Isolation und Einsamkeit der Menschen war. Das ist der Preis, der für individuelle Freiheit und Unabhängigkeit zu zahlen ist. Wir sind so frei, einsam zu sein. Dabei lebten wir bis vor zwei Jahrhunderten auch noch in Großfamilien. Dies änderte sich bekanntermaßen mit der Entwicklung zur bürgerlichen Gesellschaft im industriellen Zeitalter. Wir schlossen die Türen unserer Schlafräume und bekamen vom Staat eine Sozialversicherung.

In Kalkutta oder Bombay leben noch heute über die Hälfte der armen Einheimischen und über zwei Drittel der Reichen in einem Haus mit ihren Familien oder zumindest in deren unmittelbarer Nachbarschaft. Daran konnten weder Urbanisierung noch der zunehmende westliche Einfluss etwas ändern. In seinem Buch „Metropole, Moloch, Mythos“ beschreibt der Kulturwissenschaftler und Asienkenner Gerhard Schweizer indische Megastädte am Beispiel von Kalkutta, mit Ausflügen nach Delhi, Bombay und Bangalore.

Megastädte sind dadurch definiert, dass mehr als 10 Millionen Menschen dort leben: Sie wachsen schnell und unkontrolliert, zumindest in den Ländern des Südens. Indien ist das Land mit den meisten Megastädten, ja manche Städte Indiens zählen dreimal so viele Einwohner wie die Schweiz, Österreich oder Dänemark. In Kalkutta allein leben 14 Millionen Menschen auf einem Raum von der Größe Berlins. Für Bombay sagt die UNO bis zum Jahr 2015 über 27 Millionen Einwohner voraus.

Das klingt beängstigend, vor allem, wenn man sich vor Augen hält, dass in manchen Slums 100.000 bis 150.000 Menschen auf einem Quadratkilometer leben, dass nur die Hälfte der Bewohner Kalkuttas an das örtliche Wassernetz angeschlossen ist, dass sie an Magen- und Darmkrankheiten leiden. Es kommt hinzu, dass die Hälfte der Menschen wegen der unvorstellbaren Luftverschmutzung an den Atemwegen erkrankt sind. In Bombay erzählt ein Taxifahrer, dass man tausende von Taxen deswegen stillgelegt hat, die restlichen Taxen und städtischen Busse stellte man von Diesel auf CNG (Compressed Natural Gas) um.

Ja, das alles klingt entsetzlich beängstigend, aber warum herrscht hier nicht diese furchtbare Dumpfheit, fade Depression, Langeweile und Meckerstimmung wie in Deutschland? Warum sehe ich auf der Straße kaum greinende Kinder, sondern erlebe sie meistens als fröhlich, interessiert und intelligent? Warum kommt mir Bombay zehnmal aufregender als New York und gleichzeitig dynamisch und entspannt vor? Selbst Riyaz, der große Städte hasst, wundert sich und findet eine Antwort: „Sie haben hier einfach zu viel mit Überleben zu tun, um sich groß zu ärgern und zu zanken.“ Riyaz kann kaum lesen und schreiben, aber man führt mit ihm die herrlichsten Gespräche.

Gerhard Schweizer beschreibt in seinem Buch, wie sehr sich die Europäer darüber wundern, dass es in den „heillos übervölkerten Bretter- und Wellblechsiedlungen der Ballungszentren Indiens gelingt, eine stabile Ordnung zu erhalten“. Natürlich komme es auch zu blutigen Unruhen unter den verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften, aber selbst in den armseligsten Hütten sorge ein engmaschiges Netz der Großfamilien, Kasten und religiösen Gemeinschaften beim Einzelnen für psychischen und sozialen Halt. Die Gefahr, sich entwurzelt zu fühlen, sei „durch diese Netzwerke beträchtlich gemildert“. So erklärt er den Unterschied zu Slums in den Ländern von Schwarzafrika oder Amerika. Dort gebe es diese stark geflochtenen Netzwerke nicht und entsprechend entwurzelt seien die Menschen und die Kriminalitätsrate hoch. Man stelle sich vor, wir individualistischen, freiheitsliebenden, entwurzelten und einsamen Individuen würden unter solchen Bedingungen leben müssen. Es gäbe Mord und Totschlag – von den Psychosen ganz abgesehen.

Das ist der Preis für individuelle Freiheit und Unabhängigkeit: Wir sind so frei,einsam zu sein

Wenn man sich eine Weile in Indien aufhält, begreift man allmählich, dass es tatsächlich nur mit diesem rigiden System gehen kann. Ein Beispiel für diese Art von „funktionierendem“ Slum ist Dharavi. 500.000 bis 700.000 Menschen leben eng in einer Mischung aus Mietshäusern, wo in einem Raum bis zu 12 Personen leben, Wellblechhütten und Bretterbuden. Dreckige Tümpel und Unrat liefern das Odeur. Und genau hier entstand ein weithin leuchtendes Beispiel für Recycling. Hier wird alles verwertet und verproduziert, was nicht niet- und nagelfest ist. Hier entstehen hochwertige Steingut- und Keramikwaren, Ledertaschen, Schmuck und Möbel – gern gekauft von reichen und stilbewussten Konsumenten.

„Denk an die hungernden Kinder von Indien“, hieß es, wenn ich das Essen nicht mochte. Ich kannte keine hungernden Kinder und Indien war etwas, für das man im Kindergarten nickenden Negerfiguren 10 Pfennig in den Krauskopf drückte, damit die Inder katholisch wurden. Heute denke ich in Berlin bei allen möglichen Gelegenheiten an Indien. Wenn ich mit dem Hund in die elegante Kleintierklinik gehe, wenn ich wohlgenährte Volksdemonstranten und jammernde Kinder in Supermarktschlangen sehe, wenn ich abweisend schweigenden Menschen in der U-Bahn beim Nichtkommunizieren zuschaue.

Ich schreibe dies in einem Hotelzimmer von Bombay. Alle halbe Stunde schaut Riyaz vorbei und fragt, ob ich etwas zu trinken oder zu essen möchte. Natürlich ist ihm langweilig und er will sehen, ob ich vielleicht schon fertig bin. Sobald er wieder aus dem Zimmer ist, kommt die Krähe vom nahe gelegenen Baum zurück auf den Fensterrahmen, wo sie die ganze Zeit hockt, aufmerksam zuhört, was ich ihr für Fragen über ihr Land stelle, und mir zur Antwort leise knarzend unglaubliche Geschichten erzählt.