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Archiv-Artikel

Erste Wahlkampagne in Afghanistan

Zu den Präsidentschaftswahlen in einem Monat präsentieren sich 18 Kandidaten. Präsident Hamid Karsai hat im Vorfeld schon gegen Warlords Stellung bezogen. Mysteriöse Zunahme der Wahlzettel lässt auf Tricks schließen

Ende August lag die Zahl der Registrierungen plötzlich höher als die der Wähler

DELHI taz ■ In Afghanistan hat gestern offiziell der Wahlkampf begonnen. Am 9. Oktober sollen mehr als 10,5 Millionen Afghanen, die sich in die Wahlregister haben eintragen lassen, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ihren Staatspräsidenten wählen. Insgesamt 18 Kandidaten bewerben sich um dieses Amt, vom gegenwärtigen Amtsinhaber Hamid Karsai bis hin zur Außenseiterin Dr. Masuda Dschalal, der einzigen Frau unter den Anwärtern.

Mit Hilfe der Vereinten Nationen müssen über zehn Millionen Stimmzettel mit den Porträts der Kandidaten – die Mehrheit der Wähler sind Analphabeten – gedruckt und verteilt werden, 30.000 Wahlurnen ausgerüstet und platziert und über 120.000 Wahlhelfer ausgebildet werden. Falls Karsai nicht im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Stimmen gewinnt, wird ein zweiter Wahlgang notwendig.

Ursprünglich hätten bereits im Juni gleichzeitig Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden sollen, aufgrund der zunehmenden Zahl von Anschlägen im Land wurde die als weniger problematisch geltende Präsidentschaftswahl jedoch auf Oktober verlegt und die Parlamentswahl abgekoppelt und auf den nächsten April verschoben.

Der Favorit Karsai vertritt nicht nur die Ethnie der Paschtunen, die die Bevölkerungsmehrheit stellen, als Amtsinhaber seit 2001 ist er auch der einzige landesweit bekannte Kandidat – ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Karsai hat sich zudem mit der Ernennung der Kandidaten für die Posten der beiden Vizepräsidenten, Ahmed Zia Massud und Karim Khalili, als gewiefter Politiker erwiesen. Ahmed Zia Massud gehört als Tadschike der zweitgrößten Stammesgruppe des Landes an, und, noch wichtiger, er ist ein jüngerer Bruder des Nationalhelden Ahmed Schah Massud, der zwei Tage vor dem 11. September 2001 von einem mutmaßlichen Al-Qaida-Kommando ermordet worden ist. Ahmed Schah Massuds Nord-Allianz hatte im Krieg gegen die Taliban die Macht in Kabul übernommen. Während Massud als Botschafter in Moskau bisher kaum bekannt geworden ist, amtiert Karim Khalili bereits als Vizepräsident. Er ist ein Führer der schiitischen Hazaras.

Allgemein war erwartet worden, dass Hamid Karsai Verteidigungsminister Mohammed Fahim zum Stellvertreter ernennen würde. Der Tadschike Fahim ist der wohl mächtigste Mann im Land. Jedoch ist er als Verteidigungsminister zuständig für die Entwaffnung der Kriegsherren und ihrer Milizen. Und er hat sich bisher geweigert, auch die tadschikischen Kerntruppen seiner Nord-Allianz zu entwaffnen, die die Hauptstadt kontrollieren. Karsais Entscheidung war insofern eine deutliche Geste gegen die Macht der Warlords.

Diese Entscheidung Karsais führte zu einer raschen Umstellung auf dem politischen Schachbrett. Erziehungsminister Yunus Qanuni, noch kurz zuvor ein Anhänger des Präsidenten, ließ sich selber zum Präsidentschaftskandidaten nominieren und erhielt prompt die Unterstützung von Fahim und Außenminister Abdullah. Für das Amt des Vizepräsidenten ernannte auch er einen jüngeren Bruder des Volkshelden Ahmed Schah Massud. Qanuni, der unter Karsai als effizienter Innenminister fungierte, gehört mit Fahim und Abdullah der Panschiri-Faktion an, dem militärisch und politisch dominierenden Kern der Nord-Allianz aus dem Panschir-Tal nördlich von Kabul.

Um die noch immer starken Warlords vor den Wahlen zu neutralisieren, hatte Karsai schon in den letzten Wochen eine Reihe von ihnen aus ihren Machtzentren in den Provinzen auf Regierungsposten nach Kabul berufen. So ernannte er den Gouverneur Daud Mohammed aus dem Norden zum stellvertretenden Innenminister. Auch den Paschtunen Amanullah Khan, einen erbitterten Gegner des Gouverneurs von Herat, Ismael Khan, bewog er, vom Westen des Landes nach Kabul zu kommen. Es gibt Gerüchte, wonach selbst Ismael Khan, dank seiner Kontrolle der Westregion der bisher mächtigste Kriegsherr, auf einen Posten in der Hauptstadt gelockt werden soll.

Doch auch Karsai muss sich der Realität tribaler Loyalitäten beugen: Sein Vizepräsidentschaftskandidat Khalili ist auch ein Warlord. Der alte Fuchs Raschid Dostum hingegen kandidiert selber für das Amt des Präsidenten. Dostum hat zwar das Kommando über seine Milizen formell abgegeben und sie teilweise in die Armee integrieren lassen. Aber als Führer der Usbeken kann er sich ihrer Loyalität weiterhin sicher sein. Auch die UNO weiß, dass die Kriegsherren die Wahlen beeinflussen werden. Die Entwaffnung der Milizen hätte bis zur Wahl abgeschlossen sein sollen, doch von den 40.000 bis 60.000 Kämpfern sind nur rund ein Viertel demobilisiert worden.

Auch die Taliban haben den Wahlkampf begonnen – gegen die Wahlen

Auch die Taliban haben inzwischen ihren Wahlkampf begonnen, wobei es bei ihnen ein Kampf gegen die Wahl ist. Der Bombenanschlag auf die Büros der amerikanischen Leibwächter des Präsidenten mitten in Kabul Ende August könnte der Auftakt für eine blutige Schlussphase ihrer Anti-Wahl-Kampagne sein. Sie haben zu diesem Zweck bereits seit dem Frühling in den Provinzen 12 Wahlhelfer und mehrere Afghanen ermordet, die sich für die Wahlen hatten registrieren lassen sowie zahlreiche Registrierungsbüros angegriffen. Die Ausweitung auf die symbolträchtige Hauptstadt mit ihren ausländischen Vertretungen und Staatsbürgern sollte dieser Terror-Kampagne wohl noch mehr Resonanz geben. Dies mag ihnen als umso nötiger erschienen sein, als ihre Einschüchterungskampagne offensichtlich nicht gefruchtet hat, wie die Rekordzahl von Registrierungen beweist.

Allerdings ging dabei nicht alles mit rechten Dingen zu. Bis vor einigen Monaten hatte sich nur ein Bruchteil der rund 10,5 Millionen Wähler eingeschrieben. Anfangs August erreichte die Zahl plötzlich 9,6 Millionen, und bis Ende August lag sie sogar höher als die geschätzte Zahl aller Wähler. Es mag sein, dass sich mafiöse Gruppen Wählerkarten besorgt haben, um damit einen lukrativen Handel zu lancieren. Es könnte aber auch sein, dass Kriegsherren mit tausenden gefälschter Wahlkarten ihren Wunschkandidaten zum Sieg verhelfen wollen. Es gibt sogar Gerüchte, wonach pakistanische Paschtunen über die unkontrollierbare Grenze kommen könnten, um für Kandidaten ihrer Stammesgruppe die Stimme abzugeben. BERNARD IMHASLY