: Zwischen Verrat und Loyalisten
Sollte der Friedensprozess nach den Morden an britischen Soldaten enden, wäre die nordirische Polizei nicht in der Lage, den Terror zu bekämpfen, sagt Terry Spence, der Vorsitzende der nordirischen Polizeibehörde. Denn seit dem Friedensprozess hat sich die Zahl der Polizisten auf 8.000 halbiert
Tausende Protestanten und Katholiken, darunter Polizisten und Politiker aus ganz Nordirland und der Republik Irland, kamen ins nordirische Banbridge, um an der Trauerfeier für einen der ermordeten Polizisten teilzunehmen. Erstmals bei einer Trauerfeier für einen Polizisten erschienen am Freitag auch Vertreter der Sinn Féin, des politischen Arms der IRA.
Der 48-jährige Stephen Carroll war am vergangenen Montag vermutlich von Mitgliedern der Continuity IRA, einer Splittergruppe der Irisch-Republikanische Armee, erschossen worden. Zwei Tage vorher hatte die Real IRA, eine andere Splittergruppe der IRA, zwei britische Soldaten getötet. Es waren die ersten Todesopfer unter den Sicherheitskräften seit dem Karfreitagsabkommen von 1998. Die IRA-Splittergruppen haben das Abkommen der vormaligen Bürgerkriegsparteien allerdings nie anerkannt.
AUS BELFAST RALF SOTSCHECK
„Keiner will hier wieder Krieg“, sagt Dermot. „Fast jede Familie in diesem Viertel hat in den 30 Jahren des Konflikts einen Verwandten, einen Freund oder einen Nachbarn verloren.“ Dermot ist 48. Er ist in der Falls Road im Westen der nordirischen Hauptstadt Belfast aufgewachsen. Das ist die Hochburg der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und ihres politischen Flügels Sinn Féin. Mittags geht Dermot meist ins Cultúrlann, ein Kulturzentrum mit Kunstgalerie, Theatersaal, Restaurant und Buchladen sowie einem Fremdenverkehrsbüro. Eines der Hauptanliegen ist die Förderung der irischen Sprache, und in der Gegend um die Falls Road sind die Straßenschilder zweisprachig. Dermot spricht nur wenig Irisch. Er ist arbeitslos, aber das Essen im Cultúrlann ist preiswert.
„Da drüben findest du vielleicht Leute, die gut finden, was am Wochenende passiert ist“, sagt er und zeigt auf die andere Straßenseite. Dort liegt das Büro von Republican Sinn Féin, die sich 1986 von Sinn Féin abgespalten hat, weil Letztere beschlossen hatte, den Boykott des irischen Parlaments aufzugeben. Auch von der IRA spalteten sich damals eine Reihe von Aktivisten ab und gründeten die Continuity IRA, die aber erst 1994 aktiv wurde. Sie gilt als bewaffneter Arm von Republican Sinn Féin, was die Partei aber bestreitet. Vorigen Montag hat die Continuity IRA in Craigavon bei Belfast den Polizisten Stephen Carroll erschossen. Am Wochenende hat die Polizei drei Tatverdächtige verhaftet, darunter einen ehemaligen Sinn-Féin-Stadtrat. Zwei Tage vor dem Mord waren zwei britische Soldaten in der Kleinstadt Antrim vor ihrer Kaserne von der Real IRA, einer anderen Splittergruppe, getötet worden. Auch für diese Tat gibt es drei Verdächtige. Einer von ihnen ist Colin Duffy. Der 41-Jährige saß früher wegen IRA-Mitgliedschaft im Gefängnis. Als er am Wochenende festgenommen wurde, kam es in seinem Wohnviertel zu Krawallen, Jugendliche warfen Molotowcocktails, bauten Barrikaden und blockierten die Eisenbahnlinie.
Es habe in den vergangenen eineinhalb Jahren 21 Angriffe von IRA-Abspaltungen auf Polizisten gegeben, sagt Terry Spence, der Vorsitzende der Polizeibehörde von Nordirland. „Hätten diese Anschläge alle Erfolg gehabt, wären jetzt 40 Polizisten tot“, sagt er. „Wir müssen die Sicherheitsvorkehrungen in Nordirland fundamental überdenken.“ Sie sind vorige Woche verstärkt worden. Die Real IRA soll eine 300 Kilogramm schwere Bombe aus der Republik Irland in den Norden geschmuggelt haben. Und nun sucht die Polizei nach ihr. Während der 30 Jahre des Konflikts sind mehr als 300 Polizisten getötet worden, die meisten von der IRA. Früher bestand die Polizei nur zu acht Prozent aus Katholiken, heute sind es 26 Prozent. Aber die Zahl der Polizisten – zu Konfliktzeiten waren es 16.000 – wurde halbiert. „Wir sind nicht mehr in der Lage, eine neue terroristische Offensive zu bekämpfen“, sagt ein Beamter. „Das sollten wir ja eigentlich auch nicht. Aber es gibt so gut wie keine Pläne, was wir tun sollen, falls der Friedensprozess zusammenbricht.“
Republican Sinn Féins Präsident Ruairí Ó Brádaigh sagt: „Wir warnen seit zwanzig Jahren, dass die Lehre aus der irischen Geschichte lautet: Solange die britische Regierung und ihre Besatzungsarmee in Irland sind, wird es Iren geben, die dagegen Widerstand leisten.“ Ed Moloney, der das Buch „The Secret History of the IRA“ geschrieben hat, glaubt, dass die Zeiten inzwischen günstig sind für die IRA-Splittergruppen. „Der Friedensprozess hat zwar das Leben für die meisten verbessert und sogar etwas Wohlstand in manche Viertel gebracht“, sagt er, „aber das ist an weiten Teilen der katholischen Arbeiterklasse vorbeigegangen. In deren Vierteln ist die Verbrechensrate hoch, ebenso wie die Arbeitslosigkeit und die Armutsrate.“ Während die erhofften Verbesserungen durch den Friedensprozess ausblieben, müssten diese Menschen mitansehen, wie die Führung von Sinn Féin aufblühe und plötzlich Ferienhäuser im nordirischen Donegal, in Portugal oder in der Türkei besitze. „Die Leute aus diesem Kreis haben lukrative Jobs, die im Namen des Friedens von der Europäischen Union subventioniert werden. Oder sie leiten das beträchtliche Geschäfts- und Immobilienimperium der IRA.“
Doch was im Untergrund passiert, vernimmt die Führungsriege von Sinn Féin offenbar nicht. Tommy McKearney glaubt, dass in letzter Zeit einige Veteranen zu den IRA-Abspaltungen gestoßen sind, die über tödliche Kompetenz verfügen. „Es sind erfahrene Kämpfer, die lange Jahre inaktiv waren“, sagt er. „Darauf deutet die schonungslose Effizienz hin, mit der die Attentate durchgeführt worden sind.“ McKearney, Jahrgang 1952, war früher selbst in der IRA. 1977 erschoss er einen Soldaten und kam für 16 Jahre ins Gefängnis. 1980 nahm er am Hungerstreik der IRA-Gefangenen teil. Seine drei Brüder sind im Verlauf des Konflikts ums Leben gekommen. „Bisher hat man von den Abspaltungen zwar die alte Rhetorik der Siebzigerjahre gehört, aber sie hatten nicht das Potenzial, ihre Drohungen wahr zu machen“, sagt er. „Jetzt haben sie neue Leute, und das ist der Unterschied.“
Vom Cultúrlann ist es nicht weit zum Sinn-Féin-Büro, das an der Falls Road auf dem Weg in die Innenstadt liegt. Früher war es ein schäbiges Gebäude, das durch Gitter und Kameras gesichert war. Es konnte nur durch den Seiteneingang betreten werden. Inzwischen ist Sinn Féin Regierungspartei und stellt in der Mehrparteienregierung, unter Führung von Pfarrer Ian Paisleys protestantischer Democratic Unionist Party (DUP), den stellvertretenden Premierminister. Martin McGuinness ist heute dieser stellvertretende Premierminister Nordirlands, und er war in den Siebzigerjahren IRA-Kommandant. Jetzt berät er im Irak, in Palästina und im Baskenland in Sachen Konfliktlösung. Vorige Woche rief er die Bevölkerung dazu auf, jegliche Informationen über die Attentäter an die Polizei weiterzugeben. Ein normaler Wunsch für einen Regierungspolitiker, zumal Sinn Féin nun auch in der Polizeiaufsichtsbehörde sitzt. Aber er ist bei den Unionisten auf dankbare Ohren gestoßen, denn so etwas hatte man von Sinn-Féin-Politikern bislang nicht gehört. Ó Brádaigh, der Republican-Sinn-Féin-Präsident, hingegen sagt: „Das ist eine sehr törichte Empfehlung, denn das bringt die Leute in Gefahr. Es war die IRA, die so etwas Verrat genannt hat. Es ist immer noch falsch, Informationen über diejenigen weiterzugeben, die gegen das britische Besatzungsregime Widerstand leisten. Es ist immer noch Verrat.“
Die Seitenstraßen neben dem Sinn-Féin-Büro führen auf die „Friedenslinie“ zu, eine hohe Mauer, die das katholische Viertel um die Falls Road von der protestantischen Shankill Road trennt. Trotz des Friedensprozesses ist die Mauer immer höher geworden, nun steht auch noch ein Zaun darauf – ein Zeichen des Misstrauens, das seit den Bürgerkriegszeiten der Siebzigerjahre permanent präsent ist.
Der Journalist Niall Stanage wurde 1974 in Belfast geboren, im schlimmsten Jahr des Konflikts. „Es gibt einen wichtigen Unterschied in der Innen- und Außenwahrnehmung Nordirlands“, sagt er. „International galt Nordirland – bis zu den Morden jedenfalls – als Beispiel für Konfliktlösung. Aber vor Ort hängen immer noch Frustration und Hass in der Luft.“
Auch Roz Small glaubt, dass die Mauern erst in ein, zwei Generationen abgerissen werden können. Die rundliche 38-Jährige mit langem, schwarzem Haar arbeitet bei Shankill Partnership, einer Organisation, die sich um die Wirtschaftsförderung des Viertels kümmert. Äußerlich unterscheidet sich die Straße kaum von der Falls Road, abgesehen von den gehissten Union Jacks. Und die Straßenschilder sind nicht zweisprachig, obwohl der Straßenname aus dem Irischen stammt: Sean cill bedeutet alte Kirche. Dass es Racheaktionen der Loyalisten, die loyal zur britischen Krone stehen, geben wird, glaubt Roz Small nicht: „Wir sind alle schwer geschockt. Wir hatten vergessen, wie schlimm es früher war.“
Deutlich schärfer äußert sich Stadtrat Hugh Smith von der Progressive Unionist Party, dem politischen Flügel der paramilitärischen Ulster Volunteer Force. Er hat sein Büro ebenfalls auf der Shankill Road. „Die Menschen hier sind sehr, sehr wütend, und das ist milde ausgedrückt“, sagt Smith. „Ich bewundere die loyalistischen paramilitärischen Verbände, dass sie sich bisher zurückgehalten haben.“ Waffen hätten sie jedenfalls genug, denn die loyalistischen Organisationen haben im Gegensatz zur Irisch-Republikanischen Armee ihr Arsenal nicht abgegeben.
Jackie McDonald, mutmaßlicher Chef der Ulster Defence Association, einer anderen paramilitärischen Loyalistenorganisation, preist McGuinness und Sinn Féin für die eindeutige Verurteilung der drei Morde. „Sie waren sehr mutig“, sagt er. „Solche Sätze sind für sie offensichtlich ungewohnt. Sie haben uns Loyalisten gezeigt, dass es ihnen um die Unterstützung des Friedensprozesses und um Einigkeit geht.“
Vor der Berlin Bar an der Kreuzung der Shankill Road mit der Berlin Street steht Billy und raucht eine Zigarette. Seine Biografie ähnelt der von Dermot auf der Falls Road. Billy ist auch 48 Jahre alt und arbeitslos. „Es ist eine Schande, aber überraschend ist es nicht“, sagt er über die Morde. „Ich hoffe, dass es keine Gegenreaktion geben wird. Das Verrückte ist, dass ausgerechnet junge Leute versucht sind, Rache zu üben. Sie haben Geschichten über den Konflikt gehört und glauben, das waren die guten alten Zeiten. Das waren sie nicht.“