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Archiv-Artikel

Glücklich in die Katastrophe

Trotz Hartz IV und konstant hoher Arbeitslosenquote sind die Berliner so sorglos wie seit Jahren nicht mehr. Dieses Ergebnis einer Studie ist nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Denn wer schon unten ist, hat keine Angst mehr, etwas zu verlieren

VON STEFAN ALBERTI

Eine Viertelmillion Sozialhilfeempfänger. Fast 300.000 Menschen ohne Job. Die Landeskasse ist leer, die Schulden türmen sich. Wo, wenn nicht in Berlin, müsste die Angst kulminieren? Eine Studie belegt das Gegenteil: Die Berliner sind so sorglos wie seit sieben Jahren nicht. Nur in Hessen haben die Menschen noch weniger Ängste. Am meisten sank die Sorge um den eigenen Job. Anders hingegen die bundesweite Entwicklung: Dort hat sich die Stimmung kaum entspannt. Im Osten ist das Angstniveau sogar auf Rekordhöhe gewachsen.

Diese Ergebnisse stellte gestern die in Wiesbaden ansässige R+V-Versicherung vor. Seit 1991 lässt sie jährlich 2.400 Bundesbürger zu ihren Ängsten befragen. Am meisten Angst haben die Bundesbürger dieses Jahr vor steigenden Lebenshaltungskosten, schlechterer Wirtschaftslage, Arbeitslosigkeit und fehlender Bürgernähe von Politikern.

Anders als die Bürger der neuen Länder, vor allem Angst-Spitzenreiter Brandenburg, scheinen sich die Berliner inzwischen mit der wirtschaftlichen Misere und der vierthöchsten Arbeitslosenquote aller sechzehn Bundesländer abgefunden zu haben. Denn gegenüber dem vergangenen Jahr ist das Thema Arbeitslosigkeit im Berliner Angst-Ranking vom zweiten auf den achten Platz abgerutscht. Das ist sogar der niedrigste Stand seit 1993. Die Furcht vor Terroranschlägen hingegen, bundesweit auf Rang fünf, kletterte in der Hauptstadt auf Platz drei. In Bezug auf sonstige Kriminalität fühlen sich die Berliner so sicher wie zuletzt vor 14 Jahren. Dieser Eindruck deckt sich laut R+V mit der Kriminalitätsstatistik.

Die geschwundene Sorge um den Job lässt sich in Umkehrung eines französischen Filmklassikers deuten: Keine Angst ohne Lohn. Wer nichts hat, muss auch nicht fürchten, etwas zu verlieren. Oder, wie Janis Joplin sang: „Freedom is just another word for nothing left to lose.“ Das lässt sich auch wissenschaftlich ausdrücken: „Das Angstgefühl kann zurückgehen, wenn eine Situation weiterhin schlecht bleibt – und zwar dann, wenn Ungewissheit in Gewissheit umschlägt“, sagt R+V-Psychologe Christian Lüdke.

Dass sich Berlin statt vor Arbeitslosigkeit am meisten vor bürgerfernen Politikern fürchtet, ist nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Zwar hat Berlin neben vielen Arbeitslosen auch die höchste Politikerquote. Das Ergebnis der R+V-Studie bestätigt aber eine regelmäßig wiederkehrende Beobachtung: Der Regierungsumzug von Bonn nach Berlin brachte nicht die erwartete Bürgernähe. Naiv war die Vorstellung, der zuvor in Bonner Idylle abgeschottete Politiker sei in Berlin näher dran am Bürger, wo sich ihm angeblich an jeder Ecke ein Arbeitsloser in geripptem Unterhemd, ein Punk oder ein Junkie in den Weg stellt. Vielmehr belegt die Studie, dass der Durchschnittsberliner nicht das Gefühl hat, Schröder und Merkel samt Fußvolk kümmerten sich wirklich um ihn.

Und noch etwas hat die Studie herausgefunden. Während alle anderen Ängste in Berlin geringer werden – eine Sorge wächst auch hier: die um die eigene Partnerschaft. Der Berliner konzentriert offenbar seine Sorge auf den einzigen Bereich, in dem er wirklich noch etwas zu verlieren hat. Hier gibt es zur Angst allen Grund: Nirgendwo in Deutschland scheitern derart viele Ehen wie in Berlin.