: Eine Frage der Vernunft
Natürlich kann die Europäische Union ihren inneren Einigungsprozess vorantreiben – und gleichzeitig ergebnisoffene Beitrittsverhandlungen mit der Türkei führen
Wenn nicht alle Signale aus Brüssel täuschen, wird die EU-Kommission auf ihrem Gipfel am 17. Dezember beschließen, in absehbarer Zeit Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Der finale Besuch des für die Erweiterung zuständigen EU-Kommissars Günter Verheugen in diesen Tagen in der Türkei hat diesen Eindruck bestätigt. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie und Wann.
Auch wenn einige EU-Kommissare in den letzten Tagen noch einmal öffentlich, wie der Holländer Frits Bolkestein, oder hinter verschlossenen Türen, wie der Österreicher Franz Fischler und die Spanierin Loyola de Palacio, ihre „Dissending Votes“ abgegeben haben, ist der Trend doch unverkennbar. Die Mehrheit der Kommission hat sich, in Abstimmung mit den Hauptstädten der EU Länder, dafür entschieden, dass das Glas in der Türkei halb voll statt halb leer ist. Die Formel des Fortschrittsberichts, den die Kommission am 6. Oktober vorlegen wird und der als Entscheidungsgrundlage für den Gipfel im Dezember gilt, wird heißen: Es ist noch viel zu tun, packen wir es an. In den Worten des zuständigen Kommissars Verheugen: Die kritische Masse für eine Entscheidung ist erreicht. Weiteres Verschieben bringt nichts mehr.
Bleibt die Frage, wie diese Entscheidung dem Publikum verkauft werden kann. Die Antwort darauf wird sich bereits in dem Kommissionsbericht finden und seine Fortsetzung in der Entscheidung der Kommission enthalten. Erstes Argument wird sein, dass der Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht automatisch bedeutet, dass die Türkei auch beitreten wird. Die Verhandlungen, so wird der Europäische Rat feststellen, werden ergebnisoffen geführt. Im Gegensatz zu den bisherigen Beitrittsverhandlungen ist ein Scheitern dieses Mal nicht ausgeschlossen.
Zweitens werden die Verhandlungen lange Jahre in Anspruch nehmen. Die wirkliche Entscheidung über einen Beitritt steht frühestens in zehn bis fünfzehn Jahren an.
Drittens wird die Subventionsverteilung innerhalb der EU so verändert, dass die Verhandlungen mit der Türkei die Kassen nicht überfordern. Sowieso gibt es eine Kappungsgrenze in Höhe von vier Prozent des jeweiligen Bruttosozialprodukts des Empfängerlandes.
Viertens wird sich die Türkei nach den Jahren der Beitrittsverhandlungen grundlegend verändert haben. Sie wird zu einer stabilen Demokratie mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von mindestens 12.000 Euro herangereift sein, oder ein Beitritt wird nicht stattfinden.
Auch wird es nach einem Beitritt lange Übergangsfristen für die Reise- und Niederlassungsfreiheit der türkischen Bevölkerung in den übrigen EU-Ländern geben – also keine Angst vor der Flut aus dem Südosten.
Diese Verhandlungsbedingungen werden so laut und so oft wiederholt werden, dass ein großer Teil der EU-Öffentlichkeit den Eindruck hat, es sei gar nichts passiert, und die Mehrheit der türkischen Bevölkerung glaubt, es werden nun zwar Beitrittsgespräche beginnen, aber die EU wolle sie eigentlich immer noch nicht dabeihaben.
Trotzdem ist diese Politik richtig und vernünftig und entspricht den beiderseitigen Interessen. Nach 40 Jahren EU-Assoziierung, vier Jahren intensiver politischer Anstrengungen mit dem Ergebnis enormer Veränderungen kann die EU eine Entscheidung gegenüber der Türkei nicht weiter hinausschieben. Die Kommission weiß, dass eine weitere substanzielle Verschiebung nichts anderes als ein verbrämtes Nein wäre. Wer jetzt behauptet, die Kopenhagener Kriterien seien noch nicht erfüllt, das Land soll noch ein bisschen weiterüben, bevor man mit den Verhandlungen beginnen könne, wird diese Kriterien nie als erfüllt ansehen, weil es politisch nicht opportun wäre. Dagegen liegt es auf der Hand – und wird auch innerhalb der Türkei von allen Menschrechtsorganisationen bestätigt –, dass noch vorhandene Defizite natürlich am schnellsten im Zuge einer weiteren Annäherung an die EU beseitigt werden. Je ernsthafter man nun verhandelt, desto tief greifender wird der Wandel in der Türkei sein. Das Nachbarland Griechenland ist dafür ein gutes Beispiel. In diesem Sinne ist auch die Ankündigung, Verhandlungen mit der Türkei werden „ergebnisoffen geführt werden“, keine Drohung, sondern die Beschreibung einer realen Situation, die zu entsprechendem Verhalten in Ankara führen wird.
Das wird in der Türkei zu großen Frustrationen führen und das Projekt EU-Mitgliedschaft noch häufig genug an den Rand des Scheiterns führen. Trotzdem wird es schließlich gelingen – ganz einfach, weil letztlich alle davon profitieren.
Die Entstehung der Europäischen Union ist harte Arbeit. Die Grundlagen der Union sind nicht das große Gefühl, die tiefe emotionale Verbundenheit und die Liebe von 450 Millionen Menschen zueinander, sondern die Vernunft. Der Feind der Union ist deshalb das nationale und religiöse Ressentiment.
Selbstverständlich sind der Beginn von Beitrittsverhandlungen und eine spätere Aufnahme der Türkei in die EU Entscheidungen von großer Tragweite. Nichtsdestotrotz sind sie vernünftig. Die übrigen EU Länder werden davon wirtschaftlich profitieren – das ergibt sich schon aus den Chancen, die eine Wachstumsgesellschaft von 70 Millionen überwiegend jüngeren Menschen mit sich bringt – und ihre eigene Sicherheit stärken. Politische Entscheidungen fallen immer in einer bestimmten politischen Situation. Es ist deshalb müßig zu fragen, ob erst der 11. September die Türkei zu einem ernsthaften Beitrittskandidaten gemacht hat oder nicht. Spätestens seit dem 11. September ist die Relevanz der Türkei jedenfalls unübersehbar. In Zeiten, in denen Kriege wieder mit religiösen Präferenzen begründet werden, ist es von großem sicherheitspolitischem Interesse zu zeigen, dass gedeihliches Zusammenleben nicht vom jeweiligen religiösen Bekenntnis abhängt.
Es ist auch nicht einzusehen, warum ausgerechnet der Beitritt der Türkei zur EU den Prozess der Vertiefung unmöglich machen soll. Wenn die EU es in den kommenden 15 Jahren nicht schafft, die Verfassung zu verabschieden und weitere außen- und verteidigungspolitische Kompetenzen an Brüssel zu übertragen, wird sie es auch danach nicht mehr schaffen. Sind die Entscheidungen bis dahin aber gefallen, wird die Türkei sich entscheiden müssen, ob sie einer so weitgehend integrierten politischen Union beitreten will und entsprechende Souveränitätsrechte abtritt oder es eben lässt. Eine Vertiefung der EU kann sie nicht verhindern, selbst wenn sie das wollte.
Wenn also im Dezember die Entscheidung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen fällt, wird dies ein Sieg der Vernunft über das Ressentiment und die persönliche Angst einiger Entscheidungsträger vor möglichen Wahlniederlagen sein. Schlägt die EU der Türkei wider Erwarten die Tür vor der Nase zu, handelt sie grob unvernünftig und gegen ihre eigenen Grundlagen.
JÜRGEN GOTTSCHLICH