in fußballland
: CHRISTOPH BIERMANN über Stadionpostkarten

Die Kurven von Krasnojarsk

Flutlichtmasten interessieren mich mehr als Kirchtürme, und wie fast jeder Fußballfan kann ich mich der Anziehung von Fußballstadien kaum entziehen. Denn jedes von ihnen, so schäbig und klein es sein mag, ist ein Versprechen. Ihr Stadion Old Trafford nennen die Fans von Manchester United „Theater der Träume“, und der englische Stadionhistoriker Simon Inglis hat die Bühnen des Spiels schon vor Jahren mit Kirchen verglichen. Nicht nur, weil die Masten weithin Orientierung geben oder Fußballstadien im kollektiven Bewusstsein einer Stadt oft eine größere Rolle einnehmen als die lokalen Gotteshäuser. Es gibt eben noch besagtes Versprechen auf überwältigende Spiele und die damit verbundene Katharsis.

Daher schaue ich mir auch gerne Fotos von Fußballstadien an und nehme hier gerne den Vorwurf in Kauf, das es ein Geschmäckle hat, ein Buch zu loben, in dem ein Text von mir steht, der auch noch just an dieser Stelle schon einmal abgedruckt wurde. Ist mir aber egal, denn „Ansichtssache Fußballplatz“, herausgegeben vom Hamburger Fotografen Hartmut Perl, ist das Bändchen, auf das ich immer schon gewartet habe – ohne es auch nur im mindesten zu ahnen.

Zwar wusste ich schon länger, dass es Menschen gibt, die Ansichtskarten von Fußballstadien sammeln, hielt sie aber für traurige Nerds und nicht Hüter wunderbarer Schätze. Ansichtskarten in ihrer seltsamen Idealisierung und den meist falschen, überzeichneten Farben, so weiß ich nun, erfassen den Zauber von Stadien jedoch am besten. Und die Ansichtskarten sind die Stars dieses Buches – nicht die Texte. Meistens schon viele Jahre alt, mitunter gezackten Rändern, teilweise an den Ecken umgeknickt, entfalten sie eine besondere – man muss es wohl so sagen – Aura. Im guatemaltekischen Nationalstadion Mateo Flores tragen die meisten Besucher Strohhüte, als würden sie direkt von der Bananenplantage kommen, während im riesigen Estádio Jose Pinheiro Borda von Pôrto Alegre zwar tausende von Zuschauern zu sehen sind, aber nur wenige Dutzend Autos vor den Toren parken.

Man spürt den realsozialistische Schwung der Kurven des Stadion von Krasnojarsk, die calvinistische Strenge des Olympiastadions in Helsinki und die modernistische Begeisterung der Arena im brasilianischen Belo Horizonte und der avantgardistischen Kirche São Francisco im Vordergrund der Postkarte. Doch es ist nicht nur das Spektakuläre zu bestaunen. Ein Trotz gegen die Tristesse liegt darin, gerade eine Ansichtskarte des Campo de Deportes im mexikanischen Guadalajara herzustellen und den Blick auf die dortige Kargheit verschickbar zu machen, ähnlich jener auf dem Hartplatz im grönländischen Godthåb. Manchmal reichte den Herstellern der Ansichten ein Foto nicht, und so wurde das Panaroma von Heysel in Brüssel entschlossen nachretuschiert. Oder ist es gemalt, wie die Flutlicht-Traumlandschaft des Universitätsstadion von Mexiko City?

Zu sehen, wohin ein Stadion gebaut worden ist, lädt zu vielen Vermutungen ein. Das Stadion von Monaco war so nah am Meer, dass bei der Erweiterung wohl das Wasser überbaut werden musste. Der FC Dundee hat seinen Dens Park mitten in einer Wohnsiedlung errichtet, der Lokalrivale Dundee United, man sieht es am Bildrand, spielt nicht einmal hundert Meter entfernt. Der Sportplatz im brasilianischen Três Lagoas hingegen steht in einem Nirgendwo aus rotem Sand, und man fragt sich, wie Fußball dort wohl sein mag. Die seltsamste Postkarte jedoch ist eine des Stade Eboué im kongolesischen Brazzaville. Wahrscheinlich vor fast fünfzig Jahren aufgenommen, erkennt man eine wackelige Mittellinie und Spieler, die auf den Anstoß warten. Im Hintergrund ist ein sinnlos riesiger Arkadengang über der kleinen Tribüne zu sehen und scheint den Blick ins Herz der Finsternis der damaligen belgischen Kolonie zu eröffnen.

Flutlichtmasten gab es dort noch nicht, und bald werden die Scheinwerfer allenthalben unter den Dächern der neuen Arenen verschwunden sein. Wie in Amsterdam, wo ein Lichtkissen über dem Stadion zu schweben scheint. Das Bedauern darüber ist jedoch ein anderes Kapitel.