: Schluss mit dem Sex
Heute vor hundert Jahren erschoss sich Otto Weininger, Doktor der Philosophie und Autor eines skandalösen Buches. „Geschlecht und Charakter“ verschrieb sich der Auslöschung der Geschlechter – ein Programm, das modifiziert heute wieder Konjunktur hat
von ANDREA ROEDIG
„Einen wahrhaft bedeutenden Menschen, der im Koitus mehr sähe als einen tierischen, schweinischen Akt, kann es niemals geben.“ Otto Weininger, Doktor der Philosophie aus Wien, war ein genialer Mann. Im Alter von 23 Jahren schrieb er eine sechshundert Seiten starke „prinzipielle Untersuchung“, um die Geschlechterfrage ein für alle Mal zu lösen. Sein Buch, das zu einem viel zitierten Klassiker avancieren sollte, erschien im Mai 1903. Ein halbes Jahr später, am 4. Oktober 1903, jagte sich der junge Autor eine Kugel durch den Kopf oder ins Herz – die Angaben widersprechen sich.
„Geschlecht und Charakter“, das antisemitische und zugleich auch das wohl Frauen verachtendste Buch unter der Sonne, lässt sich als Pamphlet eines Unglücklichen lesen – das ist richtig und macht die Sache doch zu einfach. Denn in dem blutjungen grand maître des Frauenhasses glüht ein eigenartiges, ein mehr als nur neurotisches Feuer.
Weininger beginnt sein Buch mit der für seine Zeit noch ungewöhnlichen Behauptung einer generellen Bisexualität der Menschen, er spricht von M (Mann) und W (Weib) als konstruierte Typen, die in Wirklichkeit nie aufträten. Wir alle seien Abstufungen, sexuelle Zwischenformen, und Weininger entwickelt hieraus das „Gesetz der Anziehung“: Je weniger W einer hat, desto mehr W sucht er im anderen und umgekehrt, alles strebt auf Ergänzung hin.
Plötzlich aber – vielleicht nicht zufällig beginnend mit dem Kapitel über „Die emanzipierten Frauen“ – bricht die Harmonie. Aus der Komplementarität der Prinzipien wird ein Antagonismus, ein Kampf des Hohen gegen das Niedrige, und es beginnt – versetzt mit langatmigen Abhandlungen zur Psychologie, zur Logik, zum Genie, zur Liebe – ein schier unglaublicher Sermon über hunderte Seiten.
„Geschlecht und Charakter“ ist eine Zitatenkammer des Trash, komisch bisweilen und bisweilen tragisch, und es schraubt sich hinein in einen Furor der Ungerechtigkeit. Frauen begehen weniger Verbrechen? Weil sie nicht fähig sind zum wirklichen Vergehen! Frauen sind so sorgsam in der Krankenpflege? Weil sie herzlos Leid ansehen können! Die Mutter schreit kurz im Koitus, die Hetäre lang. Der Jude singt nicht. Die Chinesen tragen Zöpfe. Frauen benutzen vorzugsweise Leihbibliotheken. Jede zusammengeklaubte Empirie gilt als Beweis fürs gerade zu Behauptende, Weininger verschanzt sich in seinem Turm, im phobischen System der Tautologie. Genial ist der Mann, ergo: Wenn es empirisch Frauen gibt, die Züge von Begabung zeigen, dann ist dies ihren Anteilen an M zuzuschreiben.
Stein des Anstoßes ist die maßlose Leiblichkeit des Weibes: Die Frau ist schamlos, fließend, ein „Rhizom“. Das Weib will immer koitiert werden, es ist geradezu „eine Emissärin des Koitus“, und da „der ganze Körper des Weibes eine Dépendance seines Geschlechtsteiles ist“, wird die Mutter „von allen Dingen, fortwährend und am ganzen Leibe geschwängert“. Kuppelei ist die „transcendentale Funktion des Weibes“. „W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas darüber.“ Anders gesagt: Für den Mann ist der Begattungstrieb nur ein „pausierendes Jucken“.
Ihre Mischlingsgestalt verbindet die Frau mit dem Juden, auch über ihn schüttet Weininger seinen ganzen Hass aus: Der Jude ist „geborener Kommunist“, Kuppelei „seine organische Veranlagung“, er ist „lüsterner, geiler, wenn auch sexuell weniger potent als der arische Mann“, er ist seelenlos, ungläubig, unfromm, er „assimiliert sich allem und assimiliert es so sich“. Er ist die personifizierte Ambivalenz. Der Jude ist der beschnittene Mann, die Frau das Bild der vollzogenen Kastration. In der panischen Angst vor Entmannung überlagern sich Antisemitismus und Frauenhass. Weininger war 1902, am Tag des Abschlusses seiner Dissertation, zum Protestantismus konvertiert.
Grenze ist Weiningers Thema, Abgrenzung und die panische Angst vor Ambivalenz. Immer wieder schreibt er gegen seine eigene These von den sexuellen Mischformen an. Es gibt nicht den absoluten Mann, das absolute Weib, beteuert er. Dann jedoch schreibt er wieder: Man kann nur entweder Mann oder Frau sein. Die Konstrukte, die Typen, die Hirngespinste setzen sich hinterrücks durch; jedes Besondere, alles, was nicht der Regel folgt, ist bedrohlich, bringt ihn vom Weg ab.
Hin und wieder findet sich in der Literatur über Weininger der Hinweis auf homosexuelle Neigungen, und tatsächlich scheinen die ganzen sechshundert Seiten von „Geschlecht und Charakter“ nichts weiter als nur begründen zu wollen, warum man mit einer Frau nicht schlafen muss. Abgrundtief ist der Ekel vor der Frau, ihrem Körper, aber auch dem eigenen Geschlecht: Der Phallus, „jener Teil, welcher allein den nackten Mann hässlich macht“, sei „das Antimoralische“, heißt es in „Geschlecht und Charakter“. Ist Weininger wirklich ein Frauenhasser? So klein ist der Unterschied. Genitalität trennt von Genialität nur ein t – eine minimal aufragende Linie, die Weininger (ist es Zufall?) der Frau zuschlägt, nicht dem Mann. Sie hat den Phallus, den er auslöschen möchte.
Nein, was in „Geschlecht und Charakter“ verhandelt wird, ist jenseits von Homo- und Heterosexualität, jenseits von Miso- oder Philogynie. Weininger ist immer Weininger und etwas darüber hinaus. Sich über ihn aufzuregen, ihn beim Wort zu nehmen, wäre lächerlich, weil es ums Wort gar nicht geht, ihn unterscheidet vom herkömmlichen Misogynisten die Todessehnsucht, die stärker ist als Inhalte. So sehr treibt „Geschlecht und Charakter“ die Sätze auf die Spitze, dass sie beliebig werden und bisweilen unkonventionelle Thesen hervorbringen: Homosexualität ist keine Anomalie; lesbische Frauen sind besser als heterosexuelle; Prostitution ist besser als Mutterschaft.
Sosehr in jeder von Weiningers Thesen der Faschismus schlummert, so wenig konnten die Nazis mit ihnen anfangen: Sein Buch, unterm Naziregime verboten, war auch unabhängig von der religiösen Herkunft des Autors schwer zu verdauen: „Im aggressiven Antisemiten wird man immer selbst gewisse jüdische Eigenschaften wahrnehmen“, schreibt er. Judentum war für Weininger keine Rasse, sondern eine „Geistesrichtung“, eine „psychische Konstitution“.
„Geschlecht und Charakter“ ist der Versuch einer Auslöschung und eine Eschatologie, eine Erlösungsgeschichte. Die Konsequenz, die Weininger aus seinen Thesen zieht, ist logisch: Stop making sex. „Der Mann muss vom Geschlechte sich erlösen und so, nur so erlöst er die Frau. Hiermit ist die Forderung der Enthaltsamkeit für beide Geschlechter gänzlich begründet.“ Und wenn die ganze Gattung ausstirbt? Besser so. Es „kann nicht sittliche Pflicht sein, für die Fortdauer der Gattung zu sorgen“, doziert der junge Philosoph und ist der festen Überzeugung, so die „Frauenfrage“ gelöst zu haben. Der Jude wird durch den Tod des Juden Jesus zum Christen, die Frau durch die Vernichtung von W zum Mann – endlich weggeschafft.
Der Furor des Weininger’schen Frauenhasses wirkt heute, hundert Jahre später, lächerlich anachronistisch und hat allenfalls an Stammtischen, in Teilen des FAZ- und Welt-Feuilletons oder in den Büchern des Militärhistorikers Martin van Creveld („Das bevorzugte Geschlecht“) überlebt. Eine gewisse Modernität aber könnte Weiningers Wunsch nach der Ausmerzung der Geschlechterdifferenz haben. Das Motto stop making sex durchzieht, wenn auch implizit und mit umgekehrten Vorzeichen, wie ein Refrain die neuere männliche Popliteratur.
Es durchzieht die Romane als narzisstisches Phlegma, wie beispielsweise Benjamin von Stuckrad Barres „Soloalbum“, in dem der Erzähler an uninteressanten Frauen herumreibt und ansonsten seine Call-a-Pizza in den Mülleimer schmeißt, weil sie zu essen bedeuten würde, hinterher Besteck abwaschen zu müssen. Es durchzieht Georg M. Oswalds „Alles was zählt“ oder Christian Krachts Roman „Faserland“, in dem der Ich-Erzähler es meist nur zur unendlich wiederholten Scham über diverse Ausscheidungen bringt, die nichts mit Ejakulat zu tun haben.
Und es durchzieht als Endpunkt sexueller Obsession die Bücher des Erotomanen Michel Houellebecq, bei dem der Geschlechtsakt gleichzeitig fetischistisch besetzt und von einer tauben, eigenartigen Lustlosigkeit befallen ist. Die Protagonisten seiner Romane meiden die Penetration. Und ist (wie in „Elementarteilchen“ und „Plattform“) endlich die Frau gefunden, die Permanentbefriedigung gewährt, muss sie auch gleich wieder tragisch sterben, durch Selbstmord, Attentat, Gebärmutterhalskrebs. Weggeschafft.
Es wäre übertrieben, all diese Romane unter das gleiche Motto stellen zu wollen oder im strengen Sinne Parallelen zwischen der paranoiden Hitze eines Weininger und dem fischig-kalten Zynismus Houellebecqs zu ziehen. Doch als Gedankenexperiment ließen sich beide als extreme Enden einer Geschichte der Kastrationsangst verstehen.
An ihrem Anfang steht Weiningers Fluch auf die Moderne als der „jüdischsten“ und „weibischsten“ aller Zeiten, an ihrem Ende steht Houellebecqs Romanfigur Michel Djerzinski, die in „Elementarteilchen“ gelassen feststellt, dass Männer nutzlos geworden sind. Während sein Bruder Bruno, armes Erdentier, nichts anderes kann als unermüdlich sexueller Befriedigung hinterherzulaufen, verfasst der Mikrobiologe Michel eine „Prolegomena zu einer vollkommenen Replikation“ mit dem Ziel, die biologische Entwicklung von Fortpflanzung und Sexualität abzukoppeln. Er möchte „einer neuen geschlechtslosen, unsterblichen Spezies das Leben schenken, die die Individualität, die Trennung und das Werden überwunden hat“.
Man könnte die Figur des Michel als einen kleinen, technologisch geläuterten Wiedergänger Weiningers verstehen, sie ist in gewisser Weise seine Erfüllung – und sein Gegenteil. Derselbe Todeswunsch, die Menschheit als geschlechtlich getrennte solle verschwinden. Und derselbe Wunsch nach Unsterblichkeit: Weiningers Ekel galt der geschlechtlich getriebenen Gattung, und Trost sah er nur im Individuum, der rein geistigen Unsterblichkeit des (männlichen) Genies. Houellebecq, am Ende des Jahrhunderts, führt – umgekehrt – alles Elend auf den Individualismus zurück und sucht Rettung in der biologischen Unsterblichkeit des (weiblichen) Klons.
Gemeinsam ist beiden die Sehnsucht nach der Befreiung vom Sex – zumindest als Fortpflanzung – und der Auflösung der Geschlechter. Michel Djerzinski, die Romanfigur, und Otto Weininger, der tote Philosoph, sind Utopisten, sie basteln am Engel, der geschlechtslosen Monade. Welch Zukunftsmusik. Uns Irdischen bleibt unterdessen nur die Tristesse eines Soloalbums.
ANDREA ROEDIG, geboren 1962, ist Ressortleiterin Kultur beim Freitag