Ein Belgier in Paris

Vor 25 Jahren starb der Liedermacher Jacques Brel. Schon zu Lebzeiten war der Entertainer eine Legende – in seinen frankophonen Heimaten ist er heutzutage populärer denn je. Ein Nachruf

von DOROTHEA HAHN

„Sieh an: Der Abt Brel!“ So hat der damals bereits erfolgreiche Georges Brassens den Neuankömmling bei der ersten Begegnung in der Szene der Chansonniers begrüßt. Da war der junge Kollege Jacques Brel gerade auf Ochsentour durch die Pariser Clubs. Trat in manchen Nächten auf drei verschiedenen Bühnen auf. Und verdiente dennoch nicht genug, um davon zu leben.

Er trug einen beinahe bodenlangen Kittel, der wie eine Soutane aussah. Sang Lieder, die nach christlicher Pfadfinderbewegung tönten. Und zupfte dazu auf der Gitarre. Vor ihm saß ein Publikum, das weiterplauderte und trank und gelegentlich sogar gähnte. Den Sänger nahm es allenfalls wahr, um über seinen Akzent zu spotten – ein Provinzler! Ein Belgier eben.

Man schrieb das Jahr 1953. Kurz zuvor hatte Brel eine Demoplatte aufgenommen. Die war in die Hände des Pariser Talentsuchers Jacques Canetti gefallen, der den Belgier zum Vorsingen einlud. Und der 24-Jährige zauderte nicht und ließ Frau und Töchter sowie Papas Kartonfabrik, in der er den Juniorchef spielte, zurück. Eine Begründung für den radikalen Entschluss lieferte er erst viele Jahre später: „Um zu reüssieren, gab es nur eine einzige Stadt: Paris.“

Jacques Brel brauchte dafür sechs Jahre. In der Zwischenzeit tingelte er durch das Pariser Nachtleben und traf zwei Musiker, mit denen er bis zum Schluss zusammenarbeiten sollte: François Rauber und Gérard Jouannest. Auf ihren Vorschlag verzichtete er auf die Gitarre und konzentrierte sich auf der Bühne ganz auf das Singen und auf die Gestik am Mikrofon.

Beides gelang ihm so überzeugend, dass das Publikum bald Brels „Pferdegebiss“ und sogar seinen Akzent vergaß. Der Belgier erschien ihnen mit den Jahren sogar immer ansehnlicher. Ehe es aber so weit war, legte Brel auch noch den Kittel ab. Und den Schnäuzer. Und die christlich-naive Note seiner frühen Texte. Brel wurde scharf, was ihm den Ruf eines Antibürgerlichen eintrug. Und blieb zugleich zärtlich, was seinem Leumund nicht minder gut tat.

Sein Durchbruch gelang ihm mit einem Liebeslied. Brel sang es 1959 im Pariser „Olympia“. „Quand on n’a que l’amour“ beginnt mit einer Gitarre und seiner Stimme. Nach zweieinhalbminütigem Anlauf kulminiert es hymnisch mit Geigen und Bläsern. Das Lied darüber, wie es ist, wenn man nichts als die Liebe hat, wurde binnen wenigen Wochen zum Verkaufsschlager.

Doch Brel hatte mehr im Repertoire. Er dichtete und sang über die ganze Breite der menschlichen Gefühle: über die Liebe, über die Freundschaft und über den Tod. Über die Doppelmoral der Bourgeoisie, aus der er selbst stammte, und der katholischen Kirche, deren Schulen er besucht hatte. Und über die Hassliebe, die ihn mit der Heimat verband. „Le plat pays“ – das flache Land, das nur Kathedralen als Berge hat – ist eine Liebeserklärung an Belgien. „Les flamandes“ hingegen eine so bittere Abrechnung mit der Bigotterie der flämischen Frauen, wie sie nur einer singen kann, der selbst Flamen unter den Vorfahren hatte. Diese Nestbeschmutzung, dazu auf Französisch gesungen und in Paris kreiert, hat man ihm zu Hause lange übel genommen.

Nicht wenige Franzosen haben das Nachbarland Belgien erst durch Brel kennen gelernt. Aber ein „Belgier“ ist Brel trotzdem nicht lange für sie in Frankreich geblieben. Die Franzosen haben ihn eingemeindet. In ihre Kultur.

Das hat wenig damit zu tun, dass er lange in Paris gelebt hat. Schon gar nicht mit Papieren. Den Ausschlag gab allein die Sprache. Brel war, wenn schon kein französischer, dann immerhin ein frankophoner Künstler. Er hat das Repertoire gesungener Gedichte der französischen Kultur vergrößert. Und er hat dazu alle Qualitäten vereinigt, die das Wesen des populären Chansons ausmachen: das Gefühl, das Soziale, die Radikalität. Ein Zusammenspiel, in dem das Wort so viel zählt wie die Musik.

Alle Franzosen können ein oder zwei der Brel-Chansons trällern. Viele kennen seine Liedtexte auswendig. Manche Lieder kann man gemeinsam auf Geburtstagsfesten singen. Um anschließend über das Leben im Allgemeinen zu philosophieren. So viel Respekt genießen nicht viele: Léo Ferré und Barbara immer, manchmal auch Edith Piaf.

Aber es gibt auch Lieder von Brel, die bekannt sind und trotzdem nur selten gesungen werden. Schon gar nicht bei einem fröhlichen Fest. „Les vieux“ ist eines davon. Zu gezupften Geigen und lieblichen Glöckchenklängen besingt Brel darin die Alten, „die nicht mehr reden“, „die nicht mehr träumen“ und „die sich nur noch zur Beerdigung eines noch Älteren, noch Hässlicheren von der Stelle bewegen“.

Brels Karriere – ein Unternehmen in Höchstgeschwindigkeit. Hat mehr als 130 Texte geschrieben. Ein gutes Dutzend Chansons, die auch in den Hitparaden notiert wurden. Hat jedes Jahr hunderte von Konzerten gegeben. War ein Entertainer, der auch mimisch, körperlich alles zu geben schien. Ist um die Welt gereist. Hat gefeiert. Und unzählige Affären gehabt.

Mit 37, auf dem Zenit, überraschte Brel die Franzosen erneut – als er seinen Ausstieg erklärte. 1967 gab er ein letztes Konzert. In Roubaix – nahe der belgischen Grenze.

Brel arbeitete nun im Kino. Spielte in einem Dutzend Filmen mit, schrieb selbst ein paar Drehbücher. Privat widmete er sich dem Segeln. Anfang der Siebzigerjahre lernte er bei Dreharbeiten eine junge Frau von der Insel Guadeloupe kennen: Maddly Bamy – seine letzte Geliebte. Zusammen mit ihr zog er 1975 in die Südsee. Die beiden ließen sich auf der Insel Hiva-Oa nieder, wohin ein Jahrhundert zuvor schon der Maler Paul Gauguin, ein anderer Aussteiger aus Paris, gegangen war.

Da war Brel bereits ein Mythos. Während er am anderen Ende der Welt lebte, verkauften sich seine Platten in Paris besser denn je. Das verstärkte sich noch, als Brel ein einziges Mal zum Singen aus der Südsee zurückkehrte. 1977 ging er für ein paar Wochen erneut in ein Studio in Paris. Er hatte nur noch einen Lungenflügel und war vom Lungenkrebs gezeichnet. Um siebzehn neue Lieder aufzunehmen, brauchte er, der sonst auf Anhieb ins Reine zu singen verstanden hatte, zwei Monate. Am 9. Oktober 1978, kurz nach dieser Session, starb er bei Paris.

Frankreich ist Brel treu geblieben. Die populäre Erinnerung an ihn war schon zu seinen Lebzeiten permanent geworden – auch nach seinem Tod verkauften sich seine Platten glänzend. Die Förderung der frankophonen Kultur durch die Radioquote tat ein Übriges, um zu verhindern, dass seine Chansons in Vergessenheit geraten.

Seine Plattenfirma weiß freilich nicht nur aus dem bekannten Material Umsatz zu machen. Ende September brachte sie abermals eine Gesamtausgabe der Chansons Jacques Brels heraus. Als besonderes Bonbon legte sie fünf unveröffentlichte Lieder aus Brels letzter Produktion im Herbst 1977 dazu.

Erwartungsgemäß löste sie damit eine jener Kontroversen aus, die das Geschäft beleben. „Brel wäre wütend, wenn er von dieser Grabschändung erführe“, schrieb sein einstiger Verleger Eddy Barclay vorige Woche im Figaro. Der heutige Chef der Firma Barclay-Universal, Pascal Nègre, entgegnete im Fernsehen: „Das große Publikum hat ein Recht darauf, diese Werke kennen zu lernen.“ Die Witwe Thérèse Brel, deren Familienstiftung alle Rechte gehören, bestritt gar, dass ihr Mann jemals eine Veröffentlichung dieser Lieder aus der letzten Produktion für alle Zeiten verweigert habe.

Ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod ist Brel posthum ein bisschen nach Belgien zurückgeholt worden. Der Künstler hatte seine Heimatstadt einst aufgefordert, nach seinem Tod „das Maul“ zu halten. Nun aber hat seine eigene Familie eine Gedächtnisausstellung für ihn organisiert. In Brüssel. Darin ist Brels Biografie von allen Grobheiten und Exzessen bereinigt. Brels Leben bestand für seine Familie aus Musik – und Familie.

Manche Franzosen, die in diesem Erinnerungsjahr gehört und gelesen haben, dass nun auch Brüssel Brel ehrt, haben sich darüber ein bisschen gewundert. Gestört hat diese Verklärung in Paris niemanden: ist eben Belgien.

DOROTHEA HAHN arbeitet seit 21 Jahren als Journalistin, davon 14 bei der taz – und lebt seit 1994 in Paris. Das Brel-Chanson, das sie am meisten beeindruckt hat, ist „Les vieux“