: Wie kaputt wir doch sind
Unter der süßlichen Oberfläche zuckt das Perverse: Sue de Beer bringt mit ihrer Filminstallation „Hans and Grete“ jugendliche Amokläufer und die RAF in den Kunst-Werken zusammen
von HENRIKE THOMSEN
„Ich bin ein unheimlicher Mensch“, sagt Sue de Beer mit dem freundlichstem Lächeln der Welt. Die 29-jährige New Yorker Künstlerin steht mit einem Glas Ginger Ale im Hof der Kunst-Werke in Berlin. Mit ihren dunkelblonden Ponyfransen hat sie etwas von einem High-School-Teenager – aber auch etwas von Laura Dern, die als Schulmädchen in David Lynchs „Blue Velvet“ unversehens in einen Strudel von Gewalt und Obsessionen gerät.
Sue de Beer kennt die Faszination düsterer Gegenwelten. Immer wieder thematisiert sie die dunklen Seiten von Jugendkultur: Spuren von Blut und Schüssen, von Selbstverstümmelung und Zerstörung anderer durchziehen ihre Filme und Fotos. Darsteller in morbiden Posen präsentieren sich – halb spöttisch, halb verstört – in einem seichtem Poesiealbum-Ambiente.
Ab Samstag ist in den Kunst-Werken de Beers ambivalente Filminstallation „Hans und Grete“ zu sehen. Die extreme Jugendgewalt in den USA und die High-School-Massaker brachten sie zu ihrem Thema. „Viele dieser Kinder haben nach außen ganz normal gewirkt wie Kip Kinkel, der seine eigenen Eltern erschoss. Sie wuchsen behütet auf. Trotzdem sind sie voller Angst. Ich habe nach Antworten auf dieses Phänomen gesucht“, sagt de Beer.
Das Märchen „Hänsel und Gretel“ erzählt bekanntlich von zwei Kindern, die in den dunklen Hexenwald geraten, weil es zu Hause lieblos und karg zugeht. „Hans and Grete“ dagegen spielt in einem komfortablen Jugendzimmer und beschäftigt sich mit der jugendlichen Verlorenheit im Überangebot der Reize. Der Besucher kann sich in lustigen Knautschsesseln niederlassen, es gibt bunte Abziehbildchen von Pferden und Vögeln. Doch wie in Lynchs Filmen zuckt unter der süßlichen Oberfläche das Perverse. Das 40-minütige Video, erkundet die Psyche der jugendlicher Amokläufer, ergänzt durch Anspielungen auf Baader/Meinhof.
„Diese Kinder in den USA wollen einen Bruch herbeiführen, aber sie merken nicht einmal, dass sie sich vielleicht auch gegen eine bestimmte Sozialstruktur wehren. Sie sind nicht analytisch wie die Mitglieder der RAF“, erklärt de Beer. Vier junge Schauspieler geben in den Monologszenen des Videos Einblicke in eine Psyche zwischen Teenager-Weltschmerz und Sehnsucht nach Ruhm.
Ein Charakter ist an Ulrike Meinhof und ihre „Briefe aus dem toten Trakt“ angelehnt. Auf die Kombination war de Beer während ihres Berlinaufenthaltes als Philip-Morris-Stipendiatin an der American Academy und am Künstlerhaus Bethanien 2002 gekommen. Sie las das Buch der Exterroristin Astrid Proll über „Hans und Grete“ alias Andreas Baader und Gudrun Ensslin. „Ich will diese Leute nicht glorifizieren“, betont de Beer. Doch es geht ihr darum, auch die High-School-Shooter politisch ernst zu nehmen – und zwar aus ihrer eigenen Perspektive und Sprache heraus.
De Beers Bildwelten stammen aus dem „ganz normalen“ Universum der Mainstream-Horrormovies, Videospiele und Comics. Sie kann sich daran erinnern, wie sie selbst bei Kellerpartys den Gruselschocker „Halloween“ sah. „Ich habe sehr viel geschrien. Gleichzeitig war da das Gefühl, dass diese Bilder offenbar ein tiefes Bedürfnis abdecken“, erklärt sie. Seit ihrem Kunststudium versuchte die heutige Yale-Dozentin, ihr Unbehagen ästhetisch präzise zu formulieren.
Über den Erfolg war sie selbst manchmal entsetzt. Da war zum Beispiel jene Sitzung mit einem Gruftie, der für seine rituellen Selbstverletzungen bekannt war. „Ich bat ihn um eine Fotositzung“, erinnert sie sich. „Bei dieser Sitzung entstand ein Bild, für das er seine Brustwarzen aufschnitt und hochklappte. Während wir es machten, fanden wir nichts dabei. Aber als wir es hinterher sahen, haben wir uns geschämt. Es war wie ein Beweis dafür, wie kaputt wir eigentlich sind“, sagt de Beer.
Sie lacht, nimmt einen Schluck Ginger Ale und sieht beiseite. Es geschieht öfter während des Gesprächs, dass ihr Blick plötzlich abwandert und sich die Lider herabsenken. Vielleicht denkt sie an Kip Kinkel, den sie gerne in seiner Gefängniszelle interviewt hätte, ehe sie fühlte, dass dies dem Film nichts hinzufügen könnte. Dann wirkt Sue de Beer plötzlich wieder fröhlich. Erstmals seit sechs Jahren arbeite sie wieder über ein anderes Thema, sagt sie: „Das Leben in Berlin hat mich glücklich gemacht. Ich habe mit einem Film über meine glücklichen High-School-Erinnerungen begonnen: Schuleschwänzen und die ersten erotischen Abenteuer mit Jungs auf dem Rücksitz.“
„Hans and Grete“, bis 23. 11., Di.–So., 12–18 Uhr, Kunst-Werke, Auguststraße 69, Mitte