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Archiv-Artikel

Die Bonzen und die Bockigen

Die trotzigen Kinder der Agenda 2010: Bundestagsabgeordnete der SPD, die sich dem Fraktionszwang nicht beugen, werden wie Dissidenten behandelt. Was ist bloß los in einer Partei, die Insubordination doch eigentlich schätzen und schützen müsste?

von PETER FUCHS

Es ist überaus denk- und merkwürdig, dass es in unseren Tagen öffentliche Fälle von Insubordination gibt, die nicht als couragiert und vorbildhaft ausgezeichnet werden. Schließlich ist das, was man als unbotmäßiges Verhalten in scheinbar abgelebten Zeiten getadelt hat, heute ein Königszeichen der Demokratie, zu der gehört, dass sich nicht jeder und jede so disziplinieren lässt, wie die Oberen es wünschen.

Im Gegenteil: Es ist üblich geworden, diejenigen, die abweichen, nicht als Abweichler, sondern als Vorreiter zu kennzeichnen. Wir ziehen Gandhi einem grundehrlich Befehle befolgenden Apparatschik vor und es liegt nahe, jenen israelitischen Kampfpiloten, die gegen die Gepflogenheiten ihres Berufes nicht mehr umstandslos Exekutionen von oben durchführen wollen, den Friedensnobelpreis zu verleihen.

Dieser historische Trend, Insubordination zu schätzen und zu schützen, schien (und das ist das Denkwürdige) einen sicheren Hort in der Sozialdemokratie zu haben. Wo, wenn nicht dort, müsste die renitente Intelligenz von unten Heimatrecht haben? Ging es nicht gerade im sozialdemokratischen Projekt um Widerstand gegen die da oben, die Basta-Sager dieser Welt? Gegen die Verbote, selbstständig zu denken?

Und nun plötzlich das: Wir mussten in den letzten Wochen erleben, wie Bundestagsabgeordnete, die sich Fraktionszwängen nicht beugen (und man muss dieses Beugen als wirklich starke Metapher verstehen) in trotzige Kinder transformiert wurden. Kinder, die zu maßregeln waren, weil sie sich unter einer übergeordneten Vernunft (wessen?) nicht weggeduckt hatten, obwohl sie doch wissen konnten, dass ihre zukünftigen Karrierechancen in dieser Partei erheblich reduziert sein würden. Schlimmer noch: Ihre Auflehnung (und auch dieses Wort muss man auf der Zunge nachschmecken) wurde angesichts der Botmäßigkeit des grünen Koalitionspartners zur schieren Aufsässigkeit.

Dazu passt, dass tatsächlich von „Abweichlern“, von „kleinkarierten Feiglingen“ gesprochen wurde – von Mitgliedern derselben Partei über Mitglieder derselben Partei. Ein nachgerade klassischer Fall von Stigmatisierung: Ein Makel wird konstatiert, hier Eigensinn, und dann zum Anlass genommen, eine Minderheit so zu diskriminieren, dass sie nur noch als kleiner Querulantenhaufen erscheint, dessen Problem es ist, dass das Sich-dagegen-Wehren eine self-fulfilling prophecy produziert: „Seht her … so seid ihr … Wir haben es doch gesagt.“

Das Fatale daran: Den Stigmatisierten bleibt kaum eine Wahl. Entweder sie verfallen in resignatives Schweigen. Das entspräche der infantilisierenden Diagnose der Bockigkeit. Oder sie dramatisieren die eigene Argumentation durch Überbietungsfiguren, die wiederum nichts weiter bestätigen als das Bild der einfach nur schäumenden Dissidenten, die von der Fahne gehen.

Man darf also, auch weil es nicht das erste Mal war, die Frage stellen: Was ist los mit der Sozialdemokratie? Im Moment, in dem von wenigen Mutigen daran erinnert wurde, wofür diese Bewegung einst angetreten und eingestanden ist, steht die Partei gegen sich selbst auf. Sie scheint durch Abweichler im Namen ihres ureigenstes Prinzip sabotiert zu werden, das man einst soziale Gerechtigkeit nannte. Und wenn dann die Abweichler darauf insistieren, dass es um ebendieses Prinzip geht, werden sie von der puterrot empörten Führung so gedeckelt, dass die Gültigkeit des Prinzips in einer Art Gegensabotage denunziert wird.

Was ist das für eine Selbstentfremdung, von der jeder Unternehmensberater abraten muss, weil sie das Alleinstellungsmerkmal verspielt, dessenthalben die Sozialdemokratie eine Option sein könnte? Es wäre ein überaus interessantes Experiment, den Angehörigen dieser Partei einfach Fragmente aus den eigenen und anderen Programmen so vorzulegen, um zu entscheiden, welches zu dem eigenen, welches zum fremden Programm gehört. Noch konnte man den Glauben haben, es gebe doch (wie verdeckt auch immer) wesentliche, nicht aufgebbare Grundsätze. Dieser Glaube ist es, der jetzt, wenn man – um den Schlaf gebracht – an die SPD denkt, ins Wanken gerät. Noch einmal: Was ist da los?

Vielleicht kann man Kafka herandenken, der in einer Erzählung die Verwandlung eines Menschen in ein gepanzertes, am Ende unfassbar lächelndes Insekt vorführt. So ähnlich steht es um die Metamorphose einer alten sozialen Bewegung (eben der Sozialdemokratie) in eine Organisation, in einen Konzern.

Gönnt man sich ein wenig Theorie, so würde das zunächst bedeuten, dass die Grenze des Systems über die Unterscheidung von Mitgliedschaft/Nichtmitgliedschaft gezogen wird. Das Spannende daran ist, dass die Entscheidung zur Mitgliedschaft identisch ist mit einem Pauschalkonsens zu Prozessen, die man im Moment des Beitritts nicht voraussehen kann. Man dachte an Brandt und hat auf einmal Schröder. Man meinte, auf der Seite derer zu stehen, die die Schwächeren nicht nur verteidigen, sondern stark machen wollen, und muss nun die Agenda 2010 verteidigen.

Der einmal gewährte Pauschalkonsens kann in Organisationen als Machtmittel eingesetzt werden. Wer sich den Anordnungen nicht fügt, wird unter den Druck der gleichsam amtswegigen Revision der Mitgliedschaftsentscheidung gebracht. Das wäre weiter nicht schlimm, da eine Partei im Normalfall ihre Mitglieder nicht bezahlt, sondern Zahlungen von ihnen entgegennimmt, aber an die Stelle der Drohung mit Geldentzug tritt die Drohung des Verlusts von Karriere- und Machtchancen.

Dieses Drohpotenzial hat die Funktion der Stabilisierung von Hierarchien. Und es scheint so, als ob die SPD sich zunehmend hierarchisiert, also dafür sorgt, dass Informationsflüsse von unten nach oben extrem ausgedünnt werden. Was dann noch als sozialdemokratisch bestimmt werden kann, wird an der Spitze der Hierarchie informatonsdünn entschieden und von Parteitagen wegen der (mittlerweile doch albernen, weil unentwegt wiederholten) Drohung von Machtverlustchancen durchgewunken. Das passt auch insofern, als Hierarchien unter anderem die Funktion haben, Konflikte sozusagen von den Stellen, wo sie auftreten, wegzunehmen und woanders mit einem Minimum an Information zu entscheiden.

Der innere Reichtum von Parteien, der sich in Flügeln und Flügeln von Flügeln ausdrückt, wird massiv eingeschränkt, wenn die Hierarchie sich als alternativenlos darstellt und somit – scharf formuliert – mittelalterliches Format annimmt. Man sieht das sehr gut daran, dass das, was demokratisch gewünscht und erwartet wird, als finale Drohung exerziert wird, deren Diktat dann ein jeder und eine jede unterworfen wird. Wer gegen uns ist, so kann man dies paraphrasieren, darf das sein, solange von ihm keine Gefahr ausgeht, solange er die Alternativlosigkeit des Apparates hin und wieder linksnett ornamentiert. Ansonsten herrscht der kalte Realismus des Machterhalts, der – wie man an der paulinischen Wesenswende des ehedem sauerländisch-saulinischen Müntefering deutlich abgreifen kann – das Votum, das Alternativen begünstigt, nicht erträgt.

Dieser Realismus muss auch eiskalt sein, insofern die Organisation der SPD (als Hierarchie) Spitzenfiguren aufweist, die daran arbeiten, die eigene Organisation (unter harschen Erinnerungsverzichten im Blick auf Ideale) an die Organisationen der Wirtschaft zu koppeln. Erstaunlicherweise geht es offenbar darum, kollektiv bindenden Entscheidungen, deren Bewirken die Funktion der Politik ist, das Kollektive wegzunehmen. Die Wirtschaft wird sozial paradigmatisch, und das heißt, ihr ist zu geben, den anderen ist zu nehmen. Die Erschütterung, die die wenigen auslösen, die das nicht mitmachen wollen, speist sich daraus, dass sie den Finger in die Wunde legen. Die Wirtschaft könnte nicht eine ernsthafte Komplizenschaft mit der SPD ins Auge fassen, wenn diese Partei nicht konvertiert, sich also bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Aber gerade das scheint gegenwärtig zum Normalfall zu werden. Die Oberen (die Bonzen?) schwingen die Knute, sie erzwingen paradoxen Konsens. Sie erpressen die Mitglieder der Fraktion, und man macht keine überflüssige Anmerkung, wenn man darauf verweist, dass im Wort Fraktion der Bruch und das Brechen schon angelegt ist, allerdings nicht als Struktur, in der es um das Brechen von Willen geht.

Es darf, wie mir scheint, diese Zwänge nicht geben, nicht in einer Demokratie und schon gar nicht in einer Sozialdemokratie. Der öffentlich und larmoyant vorgetragene Ärger über renitente Intelligenz diskrimiert ausschließlich diejenigen, die es wagen, ihn für berechtigt zu halten. Ich jedenfalls möchte denjenigen, die sich aufbäumen und die Ohren steif halten, meinen Glückwunsch ausrichten und ihnen für die Courage danken, die – wenn auch vermutlich vorübergehend – hinter der erstarrenden Charaktermaske der SPD ein Antlitz hat sehen lassen.

Der Autor, ein Schüler Niklas Luhmanns, ist Professor für allgemeine Soziologie und Soziologie der Behinderung in Neubrandenburg