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Archiv-Artikel

Weiblich, unter 18, mit Familie

Kinderreichtum ist in Deutschland ein Armutsrisiko. Jeder siebte Niedersachse und jeder sechste Bremer lebt unter der Armutsschwelle. Hamburg kann keine Daten vorlegen. Die Caritas fürchtet, dass Hartz IV die Lage noch verschärft

aus Hannover Kai Schöneberg

Sie ist oft weiblich, alleinerziehend, häufig noch keine 18 Jahre alt. Aber auch größere Familien laufen in Deutschland häufig Gefahr, in der Armut zu landen. „Kinder sind nach wie vor ein Armutsrisiko – aus diesen Zahlen spricht ein gesellschaftliches Armutszeugnis“, sagte der Sprecher der Armutskonferenz, Hans-Jürgen Marcus, gestern bei der Vorstellung des Berichts zur „Entwicklung von Reichtum und Armut“, den das Niedersächsische Landesamt für Statistik im Auftrag der Caritas erstellt hatte.

Während die Hamburger SPD gestern tönte, der Senat mache wegen mangelnder Datenlage in der Stadt ein „Blinddate mit der Armutsentwicklung“, präsentierte die Caritas für die benachbarten Bundesländer knallharte Zahlen – die allerdings verdammt traurig stimmen: Fast 1,1 Millionen oder jeder siebte Niedersachse waren 2003 von Armut betroffen. Damit entspricht die Situation hier etwa dem Bundesdurchschnitt. Im Land Bremen hat sogar jeder sechste Einwohner weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Monatseinkommens zur Verfügung, also unter 560 Euro netto. Immerhin sind die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr stabil.

Stabil ist indes nicht die Struktur der Armut: 30 Prozent aller niedersächsischen Haushalte mit fünf und mehr Personen gelten als arm, im Land Bremen sind es sogar fast 57 Prozent. „1965 lebte jedes 75. Kind in Deutschland von Sozialhilfe, 1998 war es jedes siebte Kind“, sagt Marcus. Im kommenden Jahr werde sich die Situation durch Hartz IV deutlich verschärfen: „Meine Prognose ist, dass die Zahl der armen Kinder in Deutschland dann von 1,1 auf 1,6 Millionen steigen wird“. „Fördern und Fordern“ gehe „im Prinzip in die richtige Richtung“, räumte der Sozialexperte ein. Allerdings sei der Regelsatz für Bezieher des neuen Arbeitslosengeldes II mit 345 Euro in Westdeutschland eindeutig um etwa 30 bis 40 Euro zu niedrig – und in den vergangenen Jahren still wie stetig gesenkt worden. Marcus warnt: „Mit Hartz IV wird die Armutsquote fast zwangsweise in die Höhe gehen“. Auch in seiner Funktion als Direktor der Caritas in der Diözese Hildesheim erlebt Marcus die steigende Spirale der Ausgrenzung täglich: „Unsere Schwangerenberatung wird zunehmend zur Schuldnerberatung: Wenn die Frauen Nachwuchs bekommen, können sie häufig nicht mal die Kaution für die neue Mietwohnung zahlen.“ Nachdem Mutter-Kind-Kuren seit Anfang des Jahres zuzahlungspflichtig geworden sind (zehn Euro pro Tag), „stellen wir einen rasanten Rückgang fest“, sagte Marcus. Ohnehin gingen Menschen seit der Einführung der Zuzahlungs-Pauschale „viel seltener zum Arzt“. Studien hätten gezeigt, dass Ärmere im Schnitt eine um sieben Jahre geringere Lebenserwartung hätten als „Reiche“. Die derzeit diskutierte Erhöhung der Energiepreise treffe natürlich vor allem das untere Ende der Sozialspirale.

Auch die Kürzungen auf Landesebene benachteiligten vor allem Familien: Das Ende der Lernmittelfreiheit und die Streichung des Weihnachtsgeldes bei den Landesbediensteten treffe vor allem „Menschen mit angespanntem Einkommen“, betonte Marcus. „Vernünftig“ wäre es, die Zulage nach der Zahl der Kinder gestaffelt zu kürzen“.

Was tun? Marcus kritisierte, dass es keinen Sozialstaats-TÜV gebe, der alle Gesetze auf Familiengerechtigkeit abklopfe. „Man kann sich ernsthaft fragen, wieso Kindergärten Beiträge kosten und Hochschulen nicht“, sagt er. Abhilfe naht: Auch in Niedersachsen wird die Einführung von Studiengebühren von der Landesregierung befürwortet.