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Archiv-Artikel

Zweifelhafte Strohhalme

Ob Indianermedizin oder elektrische Wellen – es ist leicht, im Internet eine „natürliche“ Methode zu finden, mit der Krebs angeblich heilbar ist

AUS STEINEBACH KLAUS BECKER

Dominik sagte: „Die brauchen eine vernünftige Abwehr, dann gewinnen die.“ Nicht nur über die Fußballnationalmannschaft, die langsam wieder auf die Beine kommt, auch über seinen Lieblingsverein Bayern München konnte der Neunjährige lange fachsimpeln. Und selbst hat Dominik gern gekickt, so oft es ging. Sein rechtes Bein konnte er nicht mehr richtig strecken. Vor knapp zwei Jahren hat man ihm eine Prothese in den Oberschenkel eingesetzt. Manchmal dachte er, dass dort immer noch der Tumor sei.

Es war nach einem Fußballspiel im Oktober 2002, als der quirlige Junge plötzlich starke Schmerzen im Bein spürte. Tage später der Schock: Oberhalb des Kniegelenks wächst ein Osteosarkom, Knochenkrebs, in der Lunge Metastasen, Tochtergeschwulsten. Er ist vom Krebs geheilt, glaubten seine Eltern, Anke und Josef Feld, lange. Bei einer Untersuchung seien auf den Bildern keine Metastasen mehr zu sehen gewesen. Dank der „Zellular-Medizin“ nach Dr. Rath – und nicht etwa wegen der Chemotherapie, die Dominik bekam. Die Hoffnung hat getrogen. Dominik liegt wieder im Krankenhaus.

Rückblende: Kurz nach der Diagnose hörten die fünffachen Eltern zum ersten Mal von dem Mediziner Matthias Rath, der behauptet, das Heilmittel für die meisten Krebsarten gefunden zu haben. Es ist eine einfache Formel: Bestimmte Aminosäuren blockieren in Kombination mit Vitamin C und Extrakten aus grünem Tee die Enzyme, mit denen sich Krebszellen ausbreiten. „Ich möchte, dass Sie nie wieder auf die Lüge hereinfallen, Krebs sei ein Todesurteil“, predigt Rath. Ärzte erbleichten ob solcher Aussagen – auch ein Mediziner wie Clemens Unger, der für unkonventionelle Forschungsansätze eintritt. „Es ist inzwischen recht unstrittig, dass Vitamine bei der Vorbeugung von Krebs helfen können“, sagte der Direktor der Freiburger Klinik für Tumorbiologie. „Aber dass Vitamine oder andere Nahrungsergänzungsmittel Krebs heilen können, ist absoluter Unsinn.“ Es sei bei einer solchen Erkrankung sehr wahrscheinlich, dass von den Lungenmetastasen selbst nach einer erfolgreichen Chemotherapie einzelne Tumorherde überleben, sagte auch Heribert Jürgens. Er ist Direktor der Kinderonkologie an der Uniklinik Münster, sein Ärzteteam hatte Dominik betreut. Der Onkologe hat offenbar Recht behalten.

Die Tumorherde könnten so klein sein, dass man sie auf keinem Bild, sondern nur bei einer Operation entdecken könne. „Deshalb hat ein Junge, nur wenn er operiert wird, eine Überlebenschance von 47 Prozent“, sagte Jürgens. Doch einen solchen Eingriff lehnten Anke und Josef Feld bis jetzt ab. Sie setzten lange nur noch auf Raths Präparate. Die statistische Überlebenschance ohne Operation: 5 Prozent. „Krebsbehandlung ist immer Risikoabwägung“, sagte Jürgens. „Aber das ist russisches Roulette.“

Die beschaulichen Hügel des Westerwalds, am Rande eines Neubaugebietes in Steinebach, 1.300 Einwohner. Eine Katze schleicht im Regen um das Einfamilienhaus mit Holzbalkon im Bauernstil. Die Felds wollten schon lange im Einklang mit der Natur leben, nahmen seit jeher alternative Medikamente. Schwarzkümmel, Aloe Vera, möglichst pflanzlich, möglichst schonend. Über die Krankheit ihres Sohnes konnten die Hauswirtschafterin und der Angestellte eines Waffenproduzenten zwischenzeitlich recht abgeklärt sprechen. Kam die Sprache jedoch auf die Chemotherapie, zuckte der dünne Schnurrbart des 41-Jährigen. „Das ist doch keine Behandlung, das ist ein langes Dahinsiechen“, entfuhr es ihm. Chemotherapie, da steckt die Chemie schon im Namen, das ist das Gegenteil von natürlich und schonend.

Josef Feld hatte schon an Bundestagsabgeordnete und Ministerpräsidenten geschrieben. Wegen der Verschwörung des „Pharmakartells“. Die Firmen würden den Medizinbetrieb kontrollieren, um weiter ihre Produkte verkaufen zu können, meint Matthias Rath. „Viele Ärzte haben Angst, öffentlich die Wahrheit zu sagen“, glaubte auch Dominiks Mutter, die 39-jährige Anke Feld. Fünfmal sind sie als wichtigste Zeugen auf Raths Veranstaltungen aufgetreten. In Mainz war auch Dominik noch dabei, im Bayern-Trikot.

Matthias Rath hatte eine riesige Plakataktion gestartet mit dem Titel „Dominik wird leben!“ Im Winter pilgerten daraufhin tausende Zuhörer zu seiner großen Deutschland-Tour. Den Nobelpreis forderten die Fans für ihren Helden, rhetorische Fragen des Mediziners beantworteten sie im Chor. Und wenn Rath Aussagen seiner Gegner einspielte, tönte hämisches Lachen durch die Säle.

Trotz allem: Die Felds passten nicht so recht in diese eingeschworene Gemeinde. „Es fällt schwer, wenn man ständig über Krankheit reden muss“, sagte Anke Feld. Eigentlich wären sie nie auf die Idee gekommen, in aller Öffentlichkeit für „Zell-Vitalstoffe“ zu werben – wenn nicht das Urteil gewesen wäre. Ein halbes Jahr nachdem sie Dominiks Chemotherapie kurz vor dem Ende abgebrochen hatten, entzog ihnen das Amtsgericht Betzdorf das Sorgerecht für die Gesundheitsfürsorge. Aus Angst riefen sie die „Dr. Rath Gesundheitsstiftung“ an.

Heribert Jürgens von der Uniklinik Münster hatte lange mit seinen Kollegen diskutiert, bevor er sich an das Gericht wandte. Eine Grundsatzerklärung der Bundesärztekammer rät Ärzten als Ultima Ratio zu diesem Schritt. Wenig später beamte Matthias Rath das Foto des 55-jährigen Onkologen bei seinen Veranstaltungen anklagend auf die Leinwand, es zeigte Jürgens verschmitzt lächelnd. Er könnte jederzeit die Rolle eines gutmütigen Onkels übernehmen. Geht es jedoch um das jüngste Urteil zum Fall Dominik, flackerte Zorn in Jürgens Stimme auf.

Das Oberlandesgericht Koblenz gab im April den Eltern das volle Sorgerecht zurück. Sie seien sich ihrer besonderen Verantwortung bewusst. Sie würden die objektive gesundheitliche Situation des Kindes kennen. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass ihr Verhalten das Kindswohl gefährde. Heribert Jürgens wiederholte die Überlebenschancen, um die es ging: 47 zu 5 Prozent. „Wir sagen ja gar nicht, dass sich jetzt jeder so behandeln lassen soll“, sagte Anke Feld. „Uns geht es um die freie Therapiewahl.“ Wenn sie aber nicht von vornherein bedingungslose Jünger des „Vitamin-Gurus“ sind, warum vertrauten sie ihr Kind einem Mann an, dem das Berliner Landgericht verboten hat, sich in seinen Anzeigen weiter „renommierter Arzt“ oder „renommierter Wissenschaftler“ zu nennen?

„Wir nehmen uns für das erste Gespräch viele Stunden Zeit“, sagte Heribert Jürgens. „Und auch danach immer wieder, weil Eltern in der Schocksituation das meiste wieder vergessen.“ Anke und Josef Feld erinnerten sich nicht, dass man Dominik mal eine Chance von 47 Prozent gegeben hatte, sollte die Therapie Erfolg haben. Von 20 Prozent sei die Rede gewesen. Und dann haben sie sich die Frage gestellt: „Wie kann jemand, der von 20 Prozent spricht, sagen: Das ist das alleinig Richtige?“ Es musste doch eine andere Möglichkeit geben, irgendetwas Neues, eine Alternative. Es konnte doch nicht sein, dass seit Jahrzehnten geforscht wird, ohne Durchbruch?

Sie hörten sich um, recherchierten im Internet. Eine Freundin erzählte ihnen von Dr. Rath. Bei Rath gab es keine Eventualitäten, Rath schien erfolgreich, schien 100 Prozent zu bieten. Und vor allem: Seine Mittel sind ganz natürlich, ohne die furchtbare Chemie, schonender geht es nicht.

Die geschockten Eltern hätten auch an einen anderen Heiler geraten können. Ob Indianermedizin oder elektrische Wellen – es ist leicht, im Internet oder auf dem Buchmarkt eine „natürliche“ Methode zu finden, mit der Krebs angeblich heilbar ist. Der Griff nach dem letzten Strohhalm? „Wir waren doch auch erst total überrascht“, sagte Anke Feld. Doch diverse Studien, ein Team in den USA und massenhaft Broschüren mit Tabellen und Schaubildern verfehlen nicht ihre Wirkung. Matthias Rath versteht es derzeit wohl am besten, Verzweifelte für sich zu gewinnen, gerade wenn Patienten versuchen, sich vielseitig zu informieren.

Die Felds entschieden sich, den Patienten zu glauben, die im Internet erzählen, ausschließlich mit der „Zellular-Medizin“ geheilt worden zu sein. Statt dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, das warnt, Raths Studien seien „mit unseriösen Methoden erstellt“. „Das wurde uns alles so begreiflich gemacht, dass wir gedacht haben: Wie kann man dagegen reden?“, sagte Anke Feld.

Damals quälte sich Dominik durch die Chemotherapie: Haarausfall, Schmerzen, Gewichtsverlust. Ein halbes Jahr später wollen die Eltern sein Leiden nicht länger mit ansehen. „Natürlich geht es einem äußerlich besser, wenn man sich nach einer solchen Therapie erholt“, sagte Heribert Jürgens. Die Felds waren überzeugt, dass die „Zell-Vitalstoffe“ sofort zu wirken beginnen. Wozu also noch eine Operation der Lunge? „Wenn Eltern sich so kurz vor dem Ziel verweigern, das tut schon sehr weh“, sagte Jürgens.

Nachts, wenn Dominik aus dem Schlaf schreckte, war er oft noch von Angst geplagt. Seine Eltern machten sich deshalb immer noch Sorgen. Die Hauptsache aber war für sie, was auf Dr. Raths Plakaten steht: „Dominik wird leben!“ Der Onkologe Heribert Jürgens sagt: „Wenn die übrig gebliebenen Krebszellen in den Lungen sich erholen und im Körper ausbreiten, dann sind sie ziemlich resistent. Dann hat man kaum noch eine Chance.“ In den meisten Fällen geschehe das innerhalb von zwei Jahren. Offenbar hat der Onkologe Recht behalten: Seit dem 30. August liegt Dominik wieder im Krankenhaus. Der Tumor hat sich über den gesamten linken Lungenflügel ausgebreitet.