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Archiv-Artikel

Moral in Eis

Nur wer mit dem Hammer „aufgeklopft“ werden kann, versteht die Sprache des Herzens: Vladimir Sorokins neuer Roman „Ljod. Das Eis“

von KATHARINA GRANZIN

Ja, dies ist ein echter Sorokin. Auch in „Ljod. Das Eis“ macht der Autor seinem Namen als bedeutendstes Enfant terrible der russischen Literatur alle Ehre. Von Anfang bis Ende wird so viel gefoltert und gemordet, dass die Lektüre nur unbeschadet übersteht, wer sich gleich zu Beginn gegen die stete Zumutung verhärtet.

In der Eingangsszene werden zwei Männer von zwei anderen mit einem Eishammer so lange auf die Brust geschlagen, bis einer von ihnen stirbt. Der andere darf schwer verletzt überleben, weil aus seiner Brust ein seltsames leises Geräusch ertönt. Wer diese geradezu pedantisch grausige Szene überstanden hat, kann dann getrost weiterlesen. Sobald sich etwas später der Sinn ihrer zunächst völlig absurd scheinenden Brutalität erschlossen hat, wirkt sie auf einmal schon nicht mehr ganz so unerträglich, und je häufiger diese nun schon bekannte Folterpraxis geschildert wird, desto normaler, ja notwendiger erscheint sie. Der Roman unterwirft uns seiner eigenen eisigen Moral.

Das titelgebende Eis ist eine vielschichtige, mehrdeutige Metapher, mit der man sowohl äußerste Reinheit assoziiert als auch äußerste menschliche Kälte. Ähnlich wie der „himmelblaue Speck“ in Sorokins gleichnamigem letztem Buch ist mit dem „Ljod“ dieses Romans eine ungewöhnliche symbolhafte Substanz Katalysator der Handlung. Ein riesiger Meteorit hat das Eis bei seinem Einschlag in die sibirische Tundra hinterlassen. In manchen Menschen, genauer: in manchen blonden und blauäugigen Personen bewirkt der enge Kontakt zum „Ljod“ eine bemerkenswerte Veränderung: Sie werden der „Sprache des Herzens“ mächtig und sind hinfort imstande, mit anderen „Erwachten“ von Herz zu Herz zu kommunizieren: eine Form von ekstatischer Interaktion, die herkömmlichen Sex völlig überflüssig macht und um die ein elitärer Geheimkult entsteht. Zur Entdeckung der Auserwählten wird eine brachiale Methode angewandt: die Erweckung der Herzen durch „Aufklopfen“ derselben mit einem aus dem Meteoriteneis gefertigten Spezialhammer. Wessen Herz nicht antwortet, hat Pech gehabt.

Im ersten Teil des Romans wird mit der Konkretheit und Präzision eines Filmdrehbuchs das „Aufklopfen“ und die Bekehrung dreier neuer Mitglieder im Moskau zu Beginn des dritten Jahrtausends geschildert. Ihre Welt ist verroht, paranoid und dekadent, kreist um Drogen, Gewalt, Sex und Geld. Obwohl alle versuchen, nach ihrem „Aufklopfen“ in diese Welt zurückzukehren, sind sie, die die „Sprache des Herzens“ schon erfahren haben, nicht mehr in der Lage, ihr altes Leben weiterzuführen.

Dieser erste Teil bleibt gänzlich an der Oberfläche, weder kommentiert noch erklärt er die Ereignisse, die dadurch recht lange recht mysteriös, aber spannend bleiben. Die Erklärung liefert der zweite Teil umso ausführlicher. Eine Greisin, das älteste noch lebende Mitglied der Sekte in Russland, erzählt ihr Leben: von den Nazis zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, von einem SS-Offizier „aufgeklopft“, in Österreichs Bergen in die Geheimnisse des Ordens eingeführt. Später nach Russland entsandt, um mit anderen „Brüdern“ für den Geheimdienstchef Berija zu arbeiten und abertausende blonder Menschen unauffällig „aufzuklopfen“.

Sorokin verarbeitet in dieser Geschichte Rassenwahn, Naziästhetik, politischen Fanatismus und die kalte Menschenverachtung der Hitler’schen und Stalin’schen Schergen. Ein kurzer Abriss des Totalitarismus. Mit diesem Rundumschlag holt er nicht nur gegen jene aus, die – in Russland und anderswo – faschistoides Gedankengut politisch salonfähig machen, sondern zielt wohl auch auf eine verbreitete Tendenz in der orientierungslosen russischen Gesellschaft, das eigene Seelenheil in einer der unzähligen Sekten zu suchen. InVereinigungen also, die sich typischerweise selbst durch eine totalitäre, exklusive Menschensicht auszeichnen und damit die großen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht imitieren.

Nicht eindeutig aufzulösen bleiben die epilogartigen beiden Schlussteile des Romans. Teil drei schildert im Stil einer Produktbroschüre die Erlebnisse von Konsumenten mit dem neuen Wellnessprodukt „Ljod“. Im vierten und letzten Teil des Romans nimmt ein kleiner Junge ein Stück Eis aus der „Ljod“-Maschine seiner Mutter aus Mitleid mit ins Bett, um es zu wärmen. Hier beginnt es zu schmelzen – eine unglaublich kitschige Metapher. Das kann ja wohl kaum des Postmodernisten Ernst sein.

Vladimir Sorokin: „Ljod. Das Eis“. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin Verlag 2003, 349 S., 19,90 €