„Das Menschenopfer ist zurück“

Wie man den Gott des Todes betrügt: Ein Gespräch mit dem mexikanischen Schriftsteller und Literaturkritiker Alberto Ruy Sánchez über Globalisierung, barockes Denken, protestantische Ethik und darüber, was die USA mit den alten Azteken und Lateinamerika mit der islamischen Welt gemein haben

Interview JOSHUA PERLMAN

taz: Verändert sich Amerika durch den Zustrom mexikanischer Einwanderer?

Alberto Ruy Sánchez: Natürlich. Aber zunächst sollten wir damit aufhören, dieses Land Amerika zu nennen. Denn Amerika heißt ja der ganze Kontinent. Ein Land beansprucht den Namen eines ganzen Kontinents! Für mich sind das die Staaten.

Gut, also die Staaten. In Lateinamerika ist die Haltung zu den USA ja traditionell eher ablehnend. Aber wie verhält es sich mit der Einstellung der mexikanischen Immigranten in den USA zu ihrer neuer Heimat?

Ich möchte das mit einer Anekdote erläutern. In einem Blumenladen in Palo Alto, Kalifornien, habe ich einmal einen jungen Latino kennen gelernt, der Blumen kaufte, um sie der Jungfrau von Guadalupe zu bringen, weil er bald in den Irak in den Krieg ziehen sollte. Ich sah, dass er ein Tattoo auf dem Arm hatte, das den uralten Aztekengott des Todes und des Menschenopfers zeigte. Diese früheren Aztekengötter verkörperten nie nur das Gute oder das Böse, sie hatten stets eine ambivalente Bedeutung. Ich fragte ihn, warum er so etwas trage, und er antwortete: „Weil ich mich jetzt Bush verschrieben habe.“ Ich sagte ihm: „Es ist aber traurig, sich selbst einem Politiker zu verschreiben.“ – „Er ist für mich kein Politiker, er ist der Gott des Todes.“ Ich fragte weiter: „Du opferst dich also für Bush?“ Er sagte: „Nein, ich opfere mein Leben nicht, obwohl ich es natürlich gefährde. Ich widme mich Bush“, und dazu zeigte er auf sein Tattoo, „aber ich betrüge ihn auch.“ Ich musste lachen: „Und wie betrügst du George Bush, den Gott des Todes?“ Daraufhin entblößte er seinen Rücken, und da sah ich, dass er dort noch ein weiteres Tattoo besaß, das seinen ganzen Rücken bedeckte: Es war eine Darstellung der Jungfrau von Guadalupe!

Sie meinen, seine Loyalität gegenüber Bush ist rein pragmatisch begründet und oberflächlich?

Offensichtlich war er ein Mexikaner ohne Papiere, der die Chance ergriff, sich in den Vereinigten Staaten einbürgern zu lassen. Denn in der Zeit des Irakkriegs akzeptierte das Heer auch Mexikaner ohne Papiere, weil sie sich als Kanonenfutter anboten. Das läuft ähnlich wie bei den Azteken: Anstatt ihre eigenen Leute zu töten, benutzten sie ihre Kriegsgefangenen als menschliche Opfer. Genauso macht es heute George W. Bush: Er führt das Menschenopfer wieder ein.

Aus Ihrer Geschichte spricht aber auch die mexikanische Neigung des doble sentido, also des zweideutigen Sprechens.

Das ist nicht spezifisch für Mexiko. Es ist viel mehr eine Eigenschaft, die man das barocke Denken nennen könnte. In Mexiko herrscht im Vergleich zum protestantischen Denken insofern ein barockes Denken vor, als für uns die Realitäten kompliziert sind. Die Sprache bedeutet nicht nur das, was sie vordergründig enthält. Wenn man in Mexiko beispielsweise jemanden nach dem Weg zu einer bestimmten Straße fragt, wird er eine Auskunft geben, wenn er sie weiß. Wenn er aber nichts weiß, dann wird er dir erzählen, was er an deiner Stelle tun würde. Oft läuft man dann los und findet die Straße nicht. Aber es ist auch nicht so, dass man angelogen worden wäre. Denn eine Frage hat viele Ebenen. Eine Ebene ist: Wo ist die Straße? Aber wenn jemand nicht weiß, wo die Straße ist, geht er automatisch zur nächsten Ebene über – und sagt Ihnen, wohin er laufen würde, wenn er sich verirrt hätte wie Sie.

In der westlichen Welt gilt der politisch engagierte Intellektuelle als Auslaufmodell. Spielen Schriftsteller in Mexiko eine andere Rolle?

Ich glaube, das ist eher ein Unterschied zwischen protestantischen und katholischen Ländern. Eines der Phänomene in den protestantischen Gesellschaften ist das Verschwinden der Intellektuellen aus den wichtigen Zeitungen. In Frankreich zum Beispiel hat ein Schriftsteller, der eine Meinung zum politischen Leben vertritt, seinen Platz auf der ersten Seite sicher. In den USA – aber auch in Mexiko – muss man dagegen ein Serienkiller sein, um auf die erste Seite zu kommen. Diese Gesellschaften legen wenig Wert auf intellektuelle Meinung. Wie Max Weber erklärt, sind Macht und Geld in der protestantischen Welt am wichtigsten. Wenn du kein Geld oder keine Macht hast, dann hat deine Meinung keinen Wert. Und vielleicht ist es die wichtigste Aufgabe des heutigen Intellektuellen, dieses Prinzip infrage zu stellen.

Aber Mexiko ist doch ein katholisches Land. Ist dieses Prinzip, das Sie beschreiben, nicht einfach ein Ergebnis des Kapitalismus?

Das Problem ist nicht der Kapitalismus. Sondern diese Mentalität, die alles gleichmacht. Kapitalismus ist das, was wir erleben, und das protestantische Denken ist ebenfalls das, was wir erleben – und zwar als Alltagstechnik. Unsere tägliche Herausforderung ist, die Vielfalt zu fördern und gegen die Neigung zu kämpfen, alles zu vereinheitlichen. Das Modell von einem gut verkäuflichen Produkt wie McDonald’s basiert auf dem Prinzip, in Moskau, Tennessee, Berlin und Mexiko-Stadt den gleichen Geschmack zu etablieren. Auch Hyatt steht für ein solches Modell: die gleiche Art von Zimmern mit der gleichen Art von Zubehör, der gleichen Art der Einrichtung.

Und der gleichen Bibel in jeder Schublade.

Genau! In Mexiko-Stadt dagegen stehen zwar an jeder Straßenecke drei Frauen, die quesadilla verkaufen. Sie benutzen den gleichen Käse, das gleiche Mehl, die gleichen Tortillas, das gleiche Öl. Und doch hat jedes Teil einen anderen Geschmack. Wegen der Art und Weise, wie sie gemacht werden: Es ist eine persönliche, körperliche Note. Aber in der protestantischen Welt – und damit meine ich nicht die Religion, es geht nicht mehr um Gott – muss alles ähnlich sein.

Ich dagegen beschäftige mich mit der Vielfalt. Meine Arbeit als Redakteur einer Zeitschrift und als Schriftsteller hat zum Ziel, die Vielfalt zu fördern. Und was die Politik betrifft: Der amerikanische Imperialismus wird nicht durch Bomben besiegt werden, sondern durch die Verschiedenheit. Er wird verwässert werden.

Durch die Globalisierung leben wir heute alle in einer Welt, die kapitalistisch und protestantisch geprägt ist. Wie kann man lernen, mit der Globalisierung zu leben und klüger mit dieser neuen Landschaft umzugehen?

Jeder muss seinen eigenen Weg finden, und einige Leute tun das gemeinsam: Sie bilden einen bestimmten Kern von sensiblen Menschen in dieser Welt. Die Öffentlichkeit will Vielfalt. Also müssen wir die Sache zum Laufen bringen. Denn nichts ist monolithisch.

Auch die USA sind ja längst nicht so monolithisch, wie manche ihrer Gegner glauben. Diese Vielfalt hat es mit sich gebracht, dass bei dem Anschlag auf das World Trade Centre am 11. September Angehörige von über hundert Nationen umkamen, darunter auch viele Latinos und Muslime. Meinen Sie, diese Konsequenz war den Attentätern bewusst?

Ich weiß nicht. Es gibt keine abstrakte Idee, die Mord rechtfertigt. Und es gibt nichts, das ein Menschenopfer rechtfertigt.

Sie haben nach dem 11. September einmal von einer geistigen Verwandtschaft zwischen Lateinamerika und der islamischen Welt gesprochen. Wie meinten Sie das?

Nun, vor der protestantischen Lebensweise existierte noch eine andere, nämlich die arabische. In Spanien ist vor vielen Jahrhunderten in kultureller Hinsicht etwas Besonderes passiert. Acht Jahrhunderte lang übten die Araber auf zwei Dritteln der Iberischen Halbinsel ihren Einfluss aus. Diese Kultur besaß die praktischste Methode, Stiefel herzustellen, und die praktischste Art und Weise, Häuser zu bauen. Diese Zivilisation, diese Alltagstechnik, die wir arabisch nennen könnten, wurde ohne Beachtung ihres religiösen Gehalts von den spanischen Christen übernommen, die Spanien eroberten und schließlich Amerika kolonialisierten.

Als die Araber aus Spanien vertrieben wurden, gingen die meisten von ihnen nach Marokko. Die Spanier aber kamen mit diesen Techniken, mit denen sie Alltagsdinge herstellten und die ich islamisch nennen würde, nach Mexiko. Deshalb können wir in Mexiko viele Spuren des Islam entdecken: in den Gebäuden, in der Keramik, in der Webkunst, aber auch im Charakter der Menschen und insbesondere in dem, was ich das barocke Denken genannt habe.

Woran machen Sie das fest?

Wir können in Mexiko und Marokko dieselben Kunstwerke finden. Die Töpferware, die man in Puebla sehen kann, ist genau die gleiche wie in Fez! Die Töpferware, die man in Guanajuato sehen kann, ist genau die gleiche wie in Safi. Diese Mischung der Techniken wurde durch die katholischen Kolonisatoren überliefert, und die Indianer waren damit vertraut. Denn am Anfang gab es keine Schafe in Amerika, sodass Wolle und verschiedene Webtechniken und Motive von den Siedlern eingeführt wurden.

Das wirkt bis heute nach?

Das Erstaunliche ist, dass es fünf Jahrhunderte später immer noch eine starke kulturelle Ähnlichkeit zwischen Nordafrika und Mexiko gibt. Beide Orte liegen im Westen, repräsentieren also den extremen „Okzident“: Mexiko ist der extreme „Okzident“ des amerikanischen Kontinents, und Marokko der äußerste „Okzident“ des afrikanischen Kontinents; Maghreb bedeutet ja auch Westen auf Arabisch.

Ich denke, dass wieder eine Verbindung zwischen Mexikanern und Marokkanern hergestellt werden sollte: nicht aus Nostalgie, sondern um uns selbst zu verstehen. Deshalb habe ich ein Manifest geschrieben, das „Towards a Horizontal Orientalism“ hieß. Das heißt, eine Verbindung zwischen Mexiko und Marokko, zwischen Lateinamerika und Nordafrika herzustellen, ohne den Norden einzubeziehen. Das befreit den Orientalismus von seiner Exotik – also von seinen negativen Aspekten, die Edward Said in seinem Buch „Orientalism“ so gut beschrieben hat.