: Trendumkehr in Castrop-Rauxel
aus Castrop-Rauxel KIRSTEN KÜPPERS
Die Sensation vollzieht sich ohne großes Aufsehen. Nachmittags an einer Bushaltestelle in Castrop-Rauxel. Daneben steht ein Mann mit Brille, ein bisschen untersetzt, ein bisschen Übergewicht. Es ist der örtliche Juso-Vorsitzende. In der einen Hand hält er eine Tasche, in der anderen das Buch „Per Anhalter durch die Galaxis“. Als er den metallicblauen Kleinwagen von Dorothee Nitsch heranfahren sieht, beginnt er in der Tasche zu wühlen. Er zieht ein rotes Büchlein hervor und reicht es ihr durchs Autofenster. Nitsch lächelt, blättert kurz. Dann legt sie ihr neues Parteibuch in die Ablage hinter den Schaltknüppel. Sie legt den Gang ein und fährt weiter.
Das war’s. Jetzt ist die 19 Jahre alte Dorothee Nitsch in der SPD: Ein junge blonde Frau, ein brandneues Mitglied. Ohne viel Aufregung ist es passiert, ohne Lärm und Trompeten. Dabei ist das doch wirklich eine Sensation. Ein Neuzugang, gegen den Trend. Über 30.000 Genossen sind dieses Jahr schon aus der SPD ausgetreten, im ganzen Land, und besonders da, wo die Sozialdemokraten Wahlen verloren haben: in Niedersachsen, Hessen und Bayern. Die kleine Ruhrgebietsstadt Castrop-Rauxel ist keine Ausnahme. 30 von 1.800 Mitgliedern hat die SPD hier dieses Jahr schon eingebüßt. Und wo alle nur wegwollen, da geht Dorothee Nitsch jetzt hin?
Irakkrieg und Volleyball
Nitsch lenkt ihren Kleinwagen durch die Straßen von Castrop-Rauxel, vorbei an Backsteinfassaden, Trinkhallen und der Schachtanlage der stillgelegten Zeche, wo früher die Grubenarbeiter in die Tiefen der Kohle verschwunden sind. Die Arbeiter haben noch SPD gewählt, sie haben die Partei mächtig gemacht hier im Ruhrgebiet. Und jetzt könnte man denken, Dorothee Nitsch geht zur SPD, weil das bei ihr in der Verwandtschaft schon immer so war, dass man eintritt in die Partei, auch wenn es in Castrop-Rauxel schon lange keine Grube mehr gibt, an der Schachtanlage mittlerweile Rockkonzerte stattfinden und im Rathaus ein Bürgermeister von der CDU sitzt. Aber so ist es nicht. Bei Dorothee Nitsch sind die Familienmitglieder Lehrer oder Chemielaboranten, mit der Kohle hatte keiner zu tun und in einer Partei war auch nie einer. Sie ist also ganz von alleine auf die Idee gekommen. Vielleicht hat sie sich auch gelangweilt bei ihrer Banklehre. „Ich wollte ein bisschen mehr tun“, meint sie.
Im Turnverein ist sie ja schon aktiv. Vor gut einem Jahr hat sie sich also die verschiedenen Parteien im Internet angeguckt. Die Grünen fand sie „zu ökig“, die CDU „zu konservativ“, die FDP kam gar nicht in Frage. Die Internet-Seite von der SPD hat ihr am besten gefallen. Sie hat dann ein paar Sitzungen bei den Jusos mitgemacht. Die Leute waren nett. Sie hat ihnen geholfen, während des Irakkrieges auf dem Marktplatz Flugblätter zu verteilen. Inzwischen feiern sie zusammen Grillfeste und Geburtstage. Für ein öffentliches Beachvolleyballfeld in Castrop-Rauxel zu kämpfen findet Dorothee Nitsch auch nicht falsch. „Da war es jetzt einfach eine logische Konsequenz mit dem Eintritt“, sagt sie.
„Was, da tritt wirklich noch jemand ein?“, blafft Benjamin Mikfeld ins Telefon, als er hört, dass es ein neues Mitglied gibt, sein Lachen ist laut. Das ist ein wenig gemein von ihm jetzt. Schließlich hat er selber noch sein SPD-Parteibuch. Bis vor zwei Jahren war Benjamin Mikfeld sogar der Bundesvorsitzende der Jusos. Bevor er die Seiten gewechselt hat. Heute sitzt er mit 31 Jahren in einem schwarzen Anzug in einer schicken Werbeagentur in Berlin-Mitte. Er verdient jetzt sein Geld mit Politikberatung für große Unternehmen. Es ist eine Weile her und fast scheint es, als wolle er nicht daran erinnert werden, obwohl er immer noch im SPD-Bundesvorstand ist. Aber Benjamin Mikfeld war auch mal da, wo Dorothee Nitsch jetzt steht. Er kommt auch aus dem Ruhrgebiet, aus Bochum. Nun macht er sich lustig. Er denkt, er sei einen Schritt weiter.
Und weil er sich gerade in so einer schönen Hochmutstimmung fühlt mit seinem neuen Beruf, da kann man Mikfeld ruhig mal fragen, warum es so ist, dass alle der SPD davonlaufen. Wieso schafft es die Partei nicht, ihre Basis zu halten?
Mikfeld nimmt sich eine Mittagspause Zeit für die Antwort. Er läuft die Berliner Friedrichsstraße entlang und erklärt. Er redet schnell und viel und knallt Worte heraus wie „piefige Vereinsmeierei als Selbstzweck“ und „Kartell des Mittelmaßes“. Worte, die auch viel sagen über die Erfahrungen eines aufstrebenden jungen Politiktalents in den unbeweglichen Strukturen eines Parteiapparats. Aber Mikfeld nennt auch einen inhaltlichen Grund für den Mitgliederschwund bei den Sozialdemokraten: „Man kann den Leuten nicht immer nur mit Verzicht kommen. Irgendwann brauchen sie einen Zukunftsentwurf. Etwas, wofür die Partei steht. Eine Perspektive, die mitreißt. Die SPD braucht Visionen.“ Mikfeld bleibt stehen. Er ist wieder vor dem Haus der Werbeagentur angekommen, bei der er jetzt arbeitet. Bei der große Firmen viel Geld dafür zahlen, dass einer wie er ihnen Ratschläge gibt. Bevor er die Treppe zu seinem Büro hochrennt, sagt er noch einen kurzen, brutalen Satz: „Der SPD fehlen die Visionen momentan völlig.“
Und er hat ja Recht. Die Briefe, die die Genossen zum Abschied schreiben, sagen es ja auch. Da gibt es Ehepaare mit 40 Jahren Parteizugehörigkeit, die nach Feierabend zum SPD-Stammtisch gingen, fürs Sommerfest Kuchen backten, Plakate klebten, denen der Vorsitzende vom Ortsverein zum Geburtstag gratulierte. Immer hätten sie es als Verrat angesehen, die SPD zu verlassen, schreiben sie, aber jetzt, ja jetzt sei der Punkt erreicht – spätestens mit der Gesundheitsreform, dass sie sich nicht mehr auskennen mit ihrer Regierung. Dass kalte Begriffe wie Ich-AG und private Vorsorge nicht zusammengehen mit der alten, warmen Solidarität. Dass sie ihre politische Heimat verloren haben und nicht wissen, wofür diese Regierung eigentlich steht. Wenn der Kanzler zurückschreibt, so wie er es diesen Sommer getan hat, als er über 20.000 Briefe an ausgetretene Mitglieder geschickt hat, wird er diese Leute nicht zurückholen. Nicht wenn Generalsekretär Olaf Scholz sagt: „Wir bedauern die Austritte sehr und unternehmen alle Anstrengungen, die Mitglieder wieder zurückzugewinnen.“ Und auch nicht, wenn Scholz nach der Bayernpleite die Agenda 2010 verteidigt: „Wer beschließt, einen steinigen Weg zu gehen, darf sich nicht darüber wundern, wenn die Füße wehtun.“
„Es muss was passieren!“, hat die 43-jährige Petra Tursky-Hartmann aus Frankfurt am Main bei der letzten Sitzung ihres Unterbezirksvorstands gerufen, als sie die neuen Austrittszahlen gehört hat. Denn so ist Petra Tursky-Hartmann, eine sehr energiegeladene Person. Es dürfe nicht sein, dass der Mitgliederschwund die SPD ergreift wie eine Krankheit. Tursky-Hartmann hat ein paar Leute angerufen. Ein paar von den Jusos, ein paar von den Ortsvereinen Sachsenhausen und Nordend.
Jetzt sitzen sie zu sechst um einen schmalen Ikea-Tisch in ihrer kleinen Wohnung und überlegen, wie sie das Volk wieder in die Partei bringen. Auf dem Tisch stehen Chips, Rotwein und eine Flasche Fanta light. Weil es ein langer Abend werden könnte. Eine gute Idee hat erst einmal niemand. Petra Tursky-Hartmann möchte einen Flyer drucken lassen. Ein kleines Stuck Karton, auf dem man lesen kann, was SPD bedeutet. Nun sucht sie nach Worten zum Aufdrucken. „Wir-Gefühl“, „Traditionsverein“, „Volkspartei“ fällt den anderen ein. Ein junger Mann, ganz in Schwarz gekleidet, sagt: „Oskar Lafontaine.“ Tursky-Hartmann schreibt mit. Irgendwann wirft eine Frau mit großen Ohrringen schüchtern ein: „Mir fehlt da ein bisschen die Moderne.“
Mit der Zukunft tun sich die Genossen an der Basis nicht leicht. Die Stadtteilbibliotheken wollen sie retten, da sind sie sich einig. Aber sonst? Begriffe wie Gerechtigkeit und Solidarität sind für die SPD schwer zu vermitteln in diesen Tagen. „Bundespolitik müssen wir sowieso ganz draußen lassen“, erklärt ein Juso, „deswegen treten ja alle aus.“ Petra Tursky-Hartmann sagt knapp: „Die Agenda 2010 ist ein Schuss in den Ofen.“
In dieser Stimmung brechen die Genossen gegen 22 Uhr 30 ihr Treffen ab. Alles Weitere wollen sie per E-Mail diskutieren. Der Flyer soll im Frühjahr kommen.
Das SPD-Neumitglied Dorothee Nitsch in Castrop-Rauxel hat dieses Problem nicht. Wahrscheinlich weil sie gar keinen Sack von SPD-Traditionen mit sich schleppt, die nun irgendwie verloren gehen könnten. Werte, für die die SPD eintritt, fallen ihr gerade gar keine ein. Sie bleibt im sicheren Ungefähren. „Ich finde es gut, wenn sich die Parteien in schweren Zeiten zusammensetzen, so wie jetzt bei der Gesundheitsreform, und gemeinsam überlegen, wie sie die Krise bewältigen.“ Es ist kurz vor 18 Uhr. Sie parkt ihren Peugeot vor einem Hotelkomplex.
Zuspruch von den Alten
In einem der Konferenzsäle, hinter pastellfarbenen Gardinen findet an diesem Abend die SPD-Wahlkreiskonferenz für die Europawahl statt. An langen Tischen, vor Blumenschmuck sitzen Delegierte von den Ortsvereinen aus Datteln, Oer-Ekenschwiek und Castrop-Rauxel zusammen. Gleich soll es mehrere Reden zum Thema Europa geben. Aber damit sich die Sensation eines neuen Parteieintritts in Castrop-Rauxel dann doch etwas feierlicher vollzieht, bekommt Dorothee Nitsch ihr Parteibuch jetzt noch ein zweites Mal überreicht. Warum die erste Übergabe überhaupt stattgefunden hat, ist unklar, vielleicht hatten die Genossen Angst, dass sie einen Rückzieher macht. Nun schüttelt ihr der SPD-Vorsitzende von Castrop-Rauxel die Hand, mehrere alte Genossen klopfen ihr auf die Schulter. Dann fängt vorne ein Mann an zu reden. Das Mikrofon ist dumpf, die Akustik schlecht. Die Rede legt sich schwer auf die Zuhörer, bis sich im Saal fast nichts mehr bewegt.
Dorothee Nitsch klatscht, wenn die anderen klatschen, einer neben ihr gähnt. Nach einer Stunde geht sie. Es ist Freitagabend und sie will heute noch in eine Großraumdiskothek nach Dortmund. Die Disko hat sieben Tanzflächen, sagt sie. Von der SPD kommt keiner mit.