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Archiv-Artikel

Das Licht der Negation

Teddy, der Inkommensurable (10): Für seine ästhetische Theorie war „Abstraktion als Weltsprache“ nicht mehr maßgeblich. Wie kann man sich ihr trotzdem mit den Mitteln zeitgenössischer Kunst nähern? Gedanken zum Adorno-Denkmal in Frankfurt

von HARALD FRICKE

Ein gläserner Kasten, menschenaffenkäfiggroß. Der Boden ist mit Holzparkett ausgelegt, darauf ein Schreibtisch und Lehnstuhl. Wenige Utensilien, links eine funktional schlichte Lampe und ein maschinengeschriebenes Manuskript, daneben Notenblätter, ganz am Rand ein mechanisch tickendes Taktell. Wer sich vorbeugt und genauer in den Container hineinsieht, findet auf dem Papier Anmerkungen von Hand. Hier ist gearbeitet worden, letzte Korrekturen am Text, auch wenn der Ort mehr wie das verlassene Kabinett in einem Museum anmutet. Aber was wird dort ausgestellt? Für ein bürgerliches Interieur aus dem vorigen Jahrhundert ist die Einrichtung zu sparsam; für den Arbeitsplatz eines Autors ist der Schreibtisch viel zu aufgeräumt. Nur keine Spuren des Gebrauchs oder gar Unfertigen hinterlassen, die irgendetwas vom Kampf mit der Materie preisgeben könnten. Adorno, sagt man, war aufgeräumt in seinem Denken.

Das Denkmal, das Vadim Zakharov dem Philosophen zu Ehren errichtet hat, wurde einen Tag vor Adornos hunderstem Geburtstag eingeweiht. Fotos zur Eröffnung zeigen den in Köln lebenden russischen Künstler vor seinem Werk. Die Aufnahmen sind von einem leicht erhöhten Standpunkt aus gemacht, sodass man über Zakharovs Schulter hinweg in den Kubus blicken kann; in einiger Entfernung stehen Schaulustige mit dem Rücken zur Kamera ins Gespräch vertieft. Frankfurt hat nun einen Ort, der Theodor W. Adornos auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz gedenkt. In der anonymen Situation stellt sich allerdings keine Erinnerung an die reale Person ein, soll es auch nicht, wenn es nach dem Künstler geht, der in seinem Werk lieber ein „Monument für das schöpferische Denken“ sehen möchte als eine Hommage. Dafür wäre ein liebevoll gestaltetes Nilpferd passender gewesen, vielleicht auch ein Wombat oder jene psychedelischen Spiralen, die F. W. Bernstein an Stelle von Augen oft hinkritzelte, wenn er sich Adorno im Rausch der Rede vorstellte.

Das offizielle Gedächtnis aber gilt im Namen des Denkers seinen Gedanken. Deshalb liegen keine losen Zettel oder private, gar intime Zeugnisse aus, sondern Adornos „Negative Dialektik“ weist in gemeißelten Lettern einen Weg außen um die Box. Was hätte Zakharov auch sonst als Symbol für Teddy, den Inkommensurablen, suchen sollen? „Absoluter Ausdruck wäre sachlich, die Sache selbst“, so steht es in dessen „Ästhetischer Theorie“, die der Künstler offenbar ernst genommen hat. Doch künstlerisch hätte „die Sache selbst“, aus Buch, Stuhl und Schreibtisch womöglich bloß als eine Verdoppelung von Realität gebaut, Adorno sicherlich niemals genügt. Zu schwer wog für ihn die Beziehung der Kunstwerke auf ihr Anderes, schon wegen der daraus resultierenden Widersprüche: Wenn ein Stuhl ein Stuhl ist, dann wird es ontologisch, da bleibt kein Platz für Kritik an den Verhältnissen, die eben die Produktion auch dieses Stuhls überhaupt erst möglich machen, rein historisch.

Man kann sich gut vorstellen, wie der Blick Adornos auf sein eigenes Denkmal sich solchermaßen mehr und mehr verengt hätte. Zumindest werden seine Schriften zu Kunst, Literatur und Musik gern im Furor der Negation interpretiert. Was aber, wenn gerade in solcher Überspitzung erst die Paradoxie auch der ästhetischen Erfahrung zum Vorschein kommt? Wenn Kunst wie bei Zakharov nicht länger im Objekt nach dem Nichtidentischen strebt – und stattdessen das Darstellen selbst zum Gegenstand der Darstellung macht?

Kein Bild nach der Natur, aber die Natur des Bildes offen legen, diese Schraube im Denken war gewiss nicht Adornos Sache. Deshalb konnte er sich zeitlebens wenig für Avantgardekünstler begeistern, denen es kaum mehr um die Suche nach Ausdruck innerer Erfahrung geht, dafür viel um Rahmenbedingungen, Verweise, um Kontexte und darum, an die Stelle von Nachahmung der Natur „eine Nachahmung des Nachahmens“ zu setzen, wie der amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg in seinem Aufsatz „Kitsch und Avantgarde“ 1939 schrieb, immerhin fünf Jahre vor dem Erscheinen des Kapitels über „Kulturindustrie“ in der „Dialektik der Aufklärung“.

Dabei wäre es im Nachhinein spannend, wie Adorno wohl auf Greenbergs Herleitung von Kitsch als Verbeugung der Machthaber vor den Massen reagiert hätte, während er umgekehrt davon ausging, das die Massenkultur ihr Publikum ideologisch gängelt und formatiert. Aus dieser Differenz hätte sich vielleicht keine Annäherung, aber viel Dialektik ergeben, die später nach dem Zweiten Weltkrieg beim Einzug der US-Kunst in Europa fehlte. Denn was für Greenberg die Überlegenheit der abstrakten Kunst ausmachte – im Bild nicht von der Darstellung einer äußeren Wirklichkeit abzuhängen, sondern diese durch Bilder selbst mit zu produzieren –, wäre für den Verfechter der kritischen Theorie unter den Verdacht gefallen, gänzlich Schein und daher unwahr zu sein. Selbst das angeblich befreite Subjekt, als das der Maler Jackson Pollock für seine überdimensionalen Drippings gefeiert wurde, hätte Adorno als Statthalter einer Ideologie verbucht, die Abweichung toleriert, weil sie längst zur Norm geworden ist.

Gesagt hat er es nie. Die theoretischen Konsequenzen aus der Durchsetzung von amerikanischer Avantgarde im globalen Maßstab wurden von Adorno nicht mehr gezogen. In seiner unvollendet gebliebenen „Ästhetischen Theorie“ fallen zwar die Namen von Klee und Picasso. Aber der im Jahr vor Adornos Tod verstorbene Marcel Duchamp kommt darin nicht vor; und auch Begriffe wie Readymade, Pop- oder die industriell gefertigte Minimal Art – all that jazz – wird man dort vergeblich suchen. Fremd und unverbunden stehen in der aus Adornos Nachlass zusammengestellten Ausgabe „Action painting“ und „informelle Malerei“ nebeneinander, deren künstlerische Form er lediglich in einem einzigen kurzen Satz als zufällige Erscheinungen wertet, die „das resignative Moment ins Extrem treiben“.

Das ist für einen Denker, der in Literatur, Film und Musik bis zuletzt auf Augenhöhe mit der aktuellen Produktion war, mehr als erstaunlich. Mit Stockhausen und Boulez hat Adorno in Darmstadt debattiert, für Beckett hat er in Frankfurt zur Buchmesse Vorreden gehalten und auch das Filmschaffen von Fritz Lang hat er bis in die Sechzigerjahre verfolgt, hat dem Regisseur sogar noch Alexander Kluge als „eine Art Wunderkind“ für ein Volontariat anempfohlen. Nirgends dagegen findet sich eine Auseinandersetzung mit der documenta etwa, und auch kein kritisches Wort zu deren Wunsch nach einer „Abstraktion als Weltsprache“, die vehement von einer Kunst jenseits der Machtblöcke gefordert wurde, jedenfalls im Westen.

Statt dessen hat er sich in den Fünfzigerjahren nach seiner Rückkehr aus Amerika mit dem Kulturkonservativen Hans Sedlmayr darüber gestritten, ob dessen Idee vom „kosmischen Klingen in der Kunst“ nicht bloß eine harmonistische Metapher sei – der übliche deutsche Hang zum Gesamtkunstwerk eben. Adorno indessen war in seinen eigenen Reflexionen aber eben auch wegen genau solcher falsch verstandenen Sorgen um die Zukunft der Kunst dem konkreten, das meint zuallererst: beschädigten Leben im Hier und Jetzt verpflichtet – jener „Seite der Wahrheit“, der Kultur zum Recht zu verhelfen habe, indem sie „Leiden beredt werden lässt“, wie es in der „Negativen Dialektik“ heißt. Das war für ihn die drängendste Lehre aus Auschwitz, viel dringlicher als jedes Aufbegehren gegen die Kulturindustrie.

Wer Adorno trotzdem beharrlich auf den Quertreiber zur Massenkultur, den Proust lesenden Snob und Feind des Pop festlegt, unterschlägt, was von den Jahren des Exils über die Hälfte seiner Lebenszeit hinaus Antrieb für sein Denken, mithin seiner kompletten Persönlichkeit war: Die Auslöschung des Eigensten durch die Konzentrationslager des Nationalsozialismus. Kaum eine Zeile seiner Texte, von der Interpretation Aldous Huxleys „Schöner neuer Welt“ bis zum fulminanten Richtspruch über das unzumutbare Gelächter im Alltag, die nicht dem Verlust jener Leben Rechnung trägt, die in Auschwitz vernichtet wurden. Eine Wendung, in der Adorno diese Unwiederbringlichkeit als objektiv hoffnungslos angesichts des vergangenen Unheils festgehalten hat, steht in „Minima Moralia“: „Normal ist der Tod“; die bekanntere, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben Barbarei sei, mag sich im Anschluss daran fast erübrigen, auch wenn sie weit mehr ins Gerede gekommen ist.

Der tiefste Riss steht zwischen den Zeilen, als Summe von zigtausend Bücherseiten. Es ist die Kluft, die von Adorno unaufhörlich miterinnert wird: zwischen dem behüteten Kind, das er war, und dem gesellschaftlich und sozial Fremden, der er nach 1933 geworden ist. Diese Lücke im Selbst füllt Negation, die wieder und wieder aufs Neue alle Erfahrung durchzieht, weil der Abgrund der Geschichte bodenlos ist, über dem Zeit seither vergeht. Kaum ein Wort des Schmerzes und kein Bild will sich einstellen, das den Zustand auflösen könnte: Kein zweiter Autor des 20. Jahrhunderts hat so oft das Wort „Glück“ an den Anfang seiner Sätze geschrieben, um damit zu schließen, dass es dieses Glück nicht mehr geben kann. Die „Minima Moralia“ sind ein nicht enden wollender Ruf danach, ob sich nicht doch irgendwo ein Halt finden ließe, der Leben lohnt, so wie in der antiken Philosophie von Aristoteles bis Augustinus die richtige Lebensführung eine Hilfe beim Streben nach Glück sein sollte. Diesen Weg zur Erkenntnis des Guten gibt es bei Adorno nicht mehr, schon vor dem ersten Aphorismus fällt das Urteil: „Das Leben lebt nicht.“

An dessen Stelle tritt fortan der Text, der beschreibt – nicht was, nur dass etwas verloren ging. Eine unglaubliche, sich durch Sozialtheorie, Philosophie und Kulturkritik bis ins feinste Detail zerfräsende Essay-Maschine, mit der Adorno vom Beginn der Fünfzigerjahre bis zu seinem Tod Lektoren, Korrektoren, Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld in Bewegung hielt, vor allem aber seine Frau Gretel, die bald sämtliche diktierten Manuskripte tippte. So trifft am Ende zu, was Vadim Zakharov in Frankfurt zum Gedächtnis installiert hat: Wahrscheinlich ist dieser begnadete, weil gnadenlose Geist Adornos auf die tragischste aller Weisen, was von der Person Adorno übrig blieb. Schade nur, dass nicht einige von seinen selbst gesprochenen Beiträgen für das Radio per Lautsprecher auf dem Vorplatz nachschallen. Er hatte eine wunderschöne Stimme.