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Archiv-Artikel

Kommunen im toten Winkel

Wenn es um die Aufwertung der Städte und Gemeinden geht, kommt der Reformeifer aller Parteien schnell zum Stillstand. Dabei braucht die Gesellschaft die soziale Stadt

Städte und Gemeinden sind jene Räume, wo die Bürger Politik aus der Nähe mitbestimmen könnten

„Die Realität frisst sich durch.“ So hat Kurt Biedenkopf den erstaunlichen Reformeifer erklärt, der Regierung wie Opposition erfasst hat. Vom Umbau über den Abbau zum Systemwechsel – so könnte man die sozialpolitische Debatte beschreiben.

Die Reform der bundesstaatlichen Ordnung jedoch findet auf einer anderen Baustelle statt. Die entsprechende Kommission aus jeweils 16 Vertretern von Bundestag und Bundesrat soll ihre Arbeit bis zum Herbst 2004 abgeschlossen haben. Die Krankheitsbilder des real existierenden Föderalismus sind ja auch offensichtlich: Die Länder haben sich im Laufe der Zeit mehr und mehr an Eigenständigkeit abkaufen lassen für das Danaergeschenk einer umfassenden Mitbestimmung im Bundesrat.

Nirgendwo auf der Welt außer in Indien, gibt es eine derartige Vermischung von Gesetzgebungskompetenzen wie in Deutschland. Die Folgen sind bekannt: Blockade im Bund; ein politischer wie demokratischer Funktionsverlust der Landtage und des Bundestages; ein Machtgewinn der Exekutiven allerorten. Die Bürger wenden sich ab von einem politischen Prozess, den sie nicht durchschauen, weil nicht klar ist, wer dort was verantwortet.

Da Bund und Länder Veränderungen wollen, wird es spätestens Anfang der nächsten Legislaturperiode zu einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung kommen – zumal die heißen Eisen wohl ausgeklammert bleiben: Finanzausgleich, Wettbewerb, Zahl und Steuerhoheit der Länder. Aber auch die verbleibenden Frage sind wichtig genug: klare Zuständigkeiten und Zuweisung der Verantwortung an Bund oder Länder; mehr Freiheit für die Länder, auch abweichend vom Bund Recht zu setzen; großzügigere Experimentierklauseln.

Offen bleibt eine ganz andere, aber die entscheidende Frage: Ob und inwieweit Bund und Länder, Regierung und Opposition den politischen Willen haben, Kompetenzen vom Bund auf die Länder und von den Ländern auf die Kommunen zu verlagern, also den Staat vom Kopf auf die Füße zu stellen. Vor allem die Kommunen bleiben im toten Winkel der Föderalismusreform. Die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände sind in der Kommission Gäste und ohne Stimmrecht. Wenn es um die politische und finanzielle Aufwertung der Kommunen geht, kommt aller Reformeifer aller Parteien schnell zum Stillstand.

Das wird sich für die Zukunft des Landes noch als verhängnisvoll erweisen, und zwar für seine demokratische Qualität wie für seine Fähigkeit, Probleme zu lösen. Städte und Gemeinden sind ja jene Räume, wo die Bürger Politik noch aus der Nähe erleben und mitbestimmen könnten. Doch in die öffentliche Debatte kommen Kommunen vor allem als Subjekte der kommunalen Selbstverwaltung und als Objekte von allerlei Zumutungen des Bundes und der Länder – etwa, wenn zusätzliche Aufgaben, nicht aber zusätzliche Mittel an sie transferiert werden.

Es wird nicht politisch über den Status der Kommunen diskutiert. Sie werden nicht begriffen als jene Arenen der Politik, in denen sich die Lebensqualität der Menschen entscheidet. Gleichzeitig spülen die großen Veränderungsschübe der Zeit –Globalisierung, Veränderung der Arbeitswelt, Brüche in den Biografien – immer mehr soziale Folgelasten an die Gestade der Städte und Gemeinden. Sie stellen die Kommungen ganz konkret vor massive Probleme

Den Letzten beißen die Hunde. Die Kommunen werden entweder zu Stätten der Endlagerung oder Entsorgung dieser sozialen Folgelasten oder aber sie werden in die Lage versetzt, kreativ mit den Problemen umzugehen, eine soziale und wirtschaftliche Entwicklungspolitik für Stadt und Region zu betreiben und auf diese Weise zu einem attraktiven Lebens- und Standort zu werden. Dazu brauchen sie mehr Kompetenzen und mehr Mittel. Die frühe Industrialisierung hat den Sozialstaat auf den Plan gerufen. Die spätindustrielle Gesellschaft braucht – als Ergänzung, nicht als Ersatz – die soziale Stadt.

Das aber erfordert ein ziemliches Umdenken. Man müsste Städte und Gemeinden, denen ja nach dem Grundgesetz keine eigene Staatlichkeit zukommt, faktisch so behandeln, als seien sie ursprüngliche und entscheidende Orte der Politik. Menschen in Arbeit zu bringen, ihren Gesundheits- und Bildungsstand zu verbessern, Alte und Arbeitslose nicht auszugrenzen: all das und noch viel mehr wird entweder in den Städten und Gemeinden geschehen, oder es wird nicht geschehen. Die Bürger werden demokratische Zugehörigkeit entweder in den Kommunen erleben oder aber die lautlose Emigration aus einem verbindenden und verbindlichen Gemeinwesen geht weiter.

Eine Rekommunalisierung der Politik und eine Repolitisierung der Kommunen sind für die Zukunft der Demokratie, für die Lebensqualität der Menschen und für den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtiger als alles, was in fernen Zentralen erdacht, in Maßnahmenpakete gebündelt und dann von Bundes- und anderen Anstalten landesweit exekutiert wird. Das entbindet Bund und Länder nicht von ihrer Verantwortung, im Gegenteil: Es verpflichtet sie, alles zu tun, um die Kommunen bei ihren Aufgaben zu unterstützen – und sich auf jene Aufgaben zu konzentrieren, die nicht kommunalisiert werden können.

Das Plädoyer gilt nicht einem Weniger an öffentlicher Verantwortung, sondern einem Weniger an staatlichem Zentralismus, den es übrigens auch innerhalb eines Bundeslandes geben kann (Bayern!). So betrachtet ist die Zuordnung der arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger zur Bundesanstalt für Arbeit und nicht zu den Kommunen eine strategische Fehlentscheidung. Wenn es dereinst ein Zuwanderungsgesetz geben wird, dann wird eine neue Monsterbehörde, das Bundesamt für Migration, alles bis ins Kleinste regeln und vorschreiben als Voraussetzung für eine amtlich beglaubigte Integrationsfähigkeit, als ob Zielvorgaben nicht genügten. Schulen werden nur erfolgreich sein, wenn sie als gemeinsame Angelegenheit der Lehrer und Eltern, Schüler und lokal Verantwortlichen gelebt und nicht als staatliche Anstalten betrieben werden.

Die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände sind in der Kommission Gäste und ohne Stimmrecht

Man sollte sich nichts vormachen: Die Reform des Föderalismus, selbst noch der Systemwechsel in der Sozialversicherung werden einfacher sein als alle Versuche, Politik und Gesellschaft von unten nach oben zu denken. Die Wurzeln für das Staatsvertrauen reichen tief in die Urgründe des deutschen Idealismus, und sie verbinden Linke wie Rechte, Progressive wie Konservative. Und doch gibt es auch in den beiden Regierungsparteien ganz unterschiedliche Traditionslinien: den Glauben an den Staat und die Idee von der Selbstorganisation der Gesellschaft.

Vermutlich müssen die neuen Realitäten ihre subversive Wirkung noch weiter entfalten, bis sich das Umdenken Bahn bricht. Die Perspektive wäre ein Umbau des Föderalismus mit dem Ziel, von den Städten und Gemeinden her eine starke Demokratie und eine sozial wie wirtschaftlich starke Gesellschaft aufzubauen.

WARNFRIED DETTLING