: Gefangen in der Uckermark
Ohne Sondergenehmigung dürfen Flüchtlinge ihren Landkreis nicht verlassen. Das ist hart, besonders für jene, die es in die abgelegene Uckermark verschlagen hat. Ein Sudanese erzählt seine Geschichte
VON BEATE SELDERS
In Prenzlau befindet sich die „Sammelunterkunft für Asylbewerber“ des Landkreises Uckermark. Auf dem Bahnhof wartet der sudanesische Flüchtling El Hadi auf den Zug. Es kommen Polizeibeamte und fordern von ihm, sich auszuweisen. Er tut es, aber widerwillig. 45 Minuten später wird er von denselben Beamten erneut kontrolliert. Diesmal kurz hinter der Landkreisgrenze im Zug nach Berlin.
Der Kontrollierte weist sich wieder unwillig aus, aber er hat alle nötigen Papiere, um legal in den nächsten Landkreis zu fahren. Das ist auch den Beamten nicht entgangen. Sie dokumentieren es sogar in dem Schreiben, um dann aber fortzufahren: „Somit besteht der Verdacht des Begehens einer Straftat nach § 95 Abs. […] sowie eine Ordnungswidrigkeit nach § 98 Abs. […]“.
El Hadi hat nie wieder etwas von dieser Geschichte gehört, aber sie bringt ihn immer noch auf: „Zwei Kontrollen hintereinander! Welcher Deutsche würde das akzeptieren? Kein normaler Mensch akzeptiert so was. Aber wenn ich unterwegs bin, treffe ich immer einen Polizisten. Kontrolle, Ausweis, Kontrolle, Ausweis. Ich habe oft gefragt, warum sie das so machen. Kontrollen sollten für die Sicherheit von jemandem sein, für die Sicherheit von einem Land. Das Volk muss etwas davon haben. Aber sie kontrollieren, nicht weil jemand gestohlen hat, nicht weil sie Leute schützen wollen. Du kannst ein polnischer Verbrecher, ein gefährlicher Deutscher sein, aber du bist weiß: keine Kontrollen. Sie kommen immer nur zu dir. Sie kommen wirklich wegen der Hautfarbe, wegen des Aussehens.“
Der flächenmäßig größte Landkreis der Bundesrepublik ist die Uckermark, eine dünn besiedelte Region im äußersten Nordosten Brandenburgs. In Richtung Berlin grenzt die Uckermark an den Landkreis Barnim. An dieser Grenze ist ohne Sondergenehmigung die legale Welt für Flüchtlinge, die der Uckermark zugewiesen wurden, zu Ende.
Als Folge der europäischen Abschottungspolitik kommen kaum noch Schutzsuchende ins Land, und in den Kreisen werden die Lager zusammengelegt. Die letzte Sammelunterkunft in der Uckermark liegt am Stadtrand von Prenzlau, zwanzig Meter vom Ortsausgangsschild entfernt, mit der verheißungsvollen Adresse „Berliner Straße“. An jedem ersten Mittwoch im Monat, wenn die Sozialhilfe in Form von Warengutscheinen und maximal 40 Euro Bargeld ausgezahlt wird, ist das Lager voll, denn wer an diesem Tag nicht erscheint, wird abgemeldet. An anderen Tagen trifft man hier höchstens zehn Prozent der angemeldeten BewohnerInnen. Das Wohnen im Heim und die Isolation in der Stadt sind unerträglich, sagen sie. Fast alle haben mehrere Bußgeldbescheide, Strafbefehle oder Gerichtsvorladungen wegen Verstoßes gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung. Die Erlaubnis, den Landkreis zu verlassen, gebe es längstens für einen Tag, wird beklagt. Aber sie können sich höchstens ein Zugticket im Monat leisten, also fahren sie ohne Erlaubnis, und alle erzählen die gleiche Geschichte: Die ersten Kontrollen gibt es immer im Zug kurz hinter der Landkreisgrenze, bevorzugt an besagtem erstem Mittwoch.
Die Sammelunterkunft in der Berliner Straße war früher Wehrmachtskaserne, dann Internierungslager für Kriegsgefangene, später sowjetische Kaserne. In langen, düsteren Fluren mit endlos hohen Wänden herrscht die beklemmende Atmosphäre alter Anstalten. Für das Gespräch mit El Hadi schließt der Heimleiter den Aufenthaltsraum im Erdgeschoss auf. Der Raum ist gelb gestrichen, und jemand hat sich bemüht, mit üppigen Vorhängen und Wohnzimmerdekoration Gemütlichkeit in das unwirtliche Gebäude zu bringen.
El Hadi floh in der zweiten Phase des Bürgerkrieges 2003 aus dem Sudan nach Deutschland und wurde im Verteilungsverfahren Prenzlau zugewiesen. „Wenn du einen Urlaubsschein beantragst, fragen sie auf dem Amt: Habt ihr zu viel Geld, dass ihr rumreisen müsst? Warum wollt ihr immer weg? Das ist eine gute Frage. Die Antwort sind die Statistiken. Ausländer werden hier angegriffen. Selbst wenn du noch kein Deutsch verstehst, siehst du es an den Gesichtern, an den Gesten, hörst, wie aggressiv sie mit dir sprechen. Und gegenüber vom Heim, an der Bushaltestelle, da standen immer viele Nazis. Als ich 2003 hierherkam, kannte ich das schon aus Eisenhüttenstadt, auch dass Leute angegriffen werden, hatte ich da schon erlebt. Wenn du vorher weißt, du wirst geschlagen, musst du an einem solchen Ort bleiben? Muss ich mein Auge in der Uckermark lassen?“
Nach zwei Monaten flieht El Hadi aus Prenzlau, fährt zu einem Landsmann nach Mannheim, verliert nach einiger Zeit seinen Aufenthaltsstatus und bringt eine lange Odyssee hinter sich, bis er schließlich mit einem neuen Asylantrag wieder in Prenzlau landet. Im Aufenthaltsraum gibt es gelegentlich Deutschunterricht durch Ehrenamtliche. „Wir möchten keine Gutscheine mehr benutzen“, steht an einer Tafel. Es gibt gerade eine Initiative gegen die Gutscheine. Sie können nur in wenigen Geschäften eingelöst werden, und vieles darf man damit nicht kaufen, nur Waren für den täglichen Bedarf.
Das Prozedere ist kompliziert. Man hält den Verkehr an der Kasse auf, zieht sich den Unmut der Verkäuferin und der anderen Kunden und Kundinnen zu. Diese Art, einzukaufen, ist demütigend. Alles, was nur mit Bargeld bezahlt werden kann, muss von den monatlichen 40 Euro bestritten werden. Auch die Geldstrafen wegen unerlaubten Verlassens des Landkreises. Nicht selten sind es Beträge von 500 Euro und mehr, die in 5- oder 10-Euro-Raten abgezahlt werden, und nicht selten sind monatlich mehrere Raten zu zahlen. El Hadi erzählt: „Jeder weiß, dass die Gutscheine umgetauscht werden.“ Am Zahltag kämen Leute aus der Umgebung, Gastronomen und andere, zum Heim. „Sie geben den Flüchtlingen 70 Prozent vom Wert in Bargeld und gehen mit einem Packen Gutscheinen Zigarettenstangen und Alkohol kaufen.“ Denn anders als die Flüchtlinge bekommen die Leute, die ihnen die Gutscheine mit Gewinn abkaufen, durchaus Alkohol und Zigaretten dafür. „Es ist ein Spiel mit uns. Aber wenn wir gegen Regeln verstoßen, sind wir Verbrecher“, sagt El Hadi.
Schließlich zeigt er einen Ausschnitt aus dem Uckermark-Kurier vom 19. April 2008, überschrieben mit „Bundespolizei fasst gesuchten Straftäter“. „Bei Kontrollen auf dem Angermünder Bahnhof konnten Bundespolizisten Donnerstagnacht einen gesuchten Straftäter festnehmen. Bei dem Mann handelt es sich um einen 34 Jahre alten Sudanesen, der wegen Vergehen gegen das Ausländergesetz von der Staatsanwaltschaft Landau in der Pfalz gesucht wurde, um eine Restersatzstrafe von 17 Tagen zu verbüßen. Bei der Durchsuchung des Mannes fanden die Beamten 0,8 Gramm Marihuana. Der Mann muss nun in die JVA Wulkow seine Reststrafe absitzen. Zudem wurde gegen ihn Anzeige wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz eingeleitet.“
El Hadi: „Warum erwähnen sie 0,8 Gramm Marihuana? Sie müssen wissen, dass 5 Gramm legal sind! Sie wollen uns unbedingt zu Kriminellen machen!“ Die 17 Tage Haftstrafe hat er abgesessen, inhaftiert zusammen mit rechten Szenegängern und Kameraden, auch solchen, die wegen Überfällen auf Leute wie ihn verurteilt wurden. El Hadi war der einzige Dunkelhäutige in der Justizvollzugsanstalt. Sein Vergehen: ein offenes Bußgeld für einen unerlaubten Aufenthalt in der Pfalz.
Die Reportage ist folgendem Buch entnommen, das am Freitag erscheint: Beate Selders: „Keine Bewegung! Die ‚Residenzpflicht‘ für Flüchtlinge – Bestandsaufnahme und Kritik“. Herausgegeben von Flüchtlingsrat Brandenburg und Humanistischer Union, 144 Seiten, 5 € Bestellung: www.humanistischeunion.de/shop/buecher oder bei Flüchtlingsrat Brandenburg, Rudolf-Breitscheid-Str. 164, 14482 Potsdam