: Kapitalgesellschaft auf der Couch
Das Filmfestival von Deauville ist das einzige Festival außerhalb der USA, das nur US-amerikanische Filme zeigt. In diesem Jahr waren dies besonders viele politische Dokumentationen. Denn wenn Linke und Liberale keinen Zugang zu den Mainstream-Medien finden, drehen sie eben fürs Kino
von SVEN VON REDEN
Je näher die US-Wahl rückt, umso bizarrere Züge nimmt der amerikanisch-französische Kulturkampf an. Rechte Radiomoderatoren, konservative Kolumnisten und republikanische Politiker witzeln momentan über nichts lieber als John Kerrys angebliche Frankophilie (der Präsidentschaftskandidat der Demokraten hat Verwandte in Frankreich und spricht skandalöserweise sogar Französisch). Der Radiodemagoge Rush Limbaugh nennt Kerry „Jean Cherie“, der Chefredakteur der Washington Times, Wesley Pruden, spricht von dem „französisch aussehenden Senator“, und der Führer der Republikaner im Repräsentantenhaus, Tom DeLay, beginnt Reden gerne mit „Guten Tag, oder, wie John Kerry sagen würde, ‚Bonjour‘!“ Ein sicherer Brüller.
Dass Frankreich dem Einfluss amerikanischer Kultur nicht eben wohlwollend gegenübersteht und mit Quotenregelungen für die heimische Kunst interveniert, ist bekannt. Umso mehr überrascht es, dass die Grande Nation das einzige Filmfestival außerhalb der USA beherbergt, das nur US-amerikanische Filme zeigt. Auf dem 30. Festival du Cinéma Américain von Deauville, das am Sonntag zu Ende ging, wurde zwar nicht direkt Stellung bezogen zu den aktuellen transatlantischen Verwerfungen, doch die Auswahl des Programms sprach eine deutliche Sprache – in beide Richtungen.
Zum einen wurde man ständig an glorreichere Tage der US-Armee erinnert, ohne die Europa in der Barbarei versunken wäre: Das Festival zeigte zum 60. Jahrestag der alliierten Invasion in der Normandie die von Steven Spielberg und Tom Hanks produzierte zehnteilige TV-Serie „Band of Brothers“ (2001), die in drastisch-realistischen Bildern die Geschichte einer US-Fallschirmspringerdivision während des Zweiten Weltkriegs erzählt. Außerdem erinnerte eine Fotoausstellung im Festivalpalast an Hollywoods Engagement im Weltkrieg, indem sie Bilder von Filmstars in schmucken Uniformen bei der Truppenbetreuung in Europa zeigte. Auch in der Stadt war die Erinnerung an die Befreiung vom Faschismus gegenwärtig. An den Postkartenständen des nicht weit von den Invasionsstränden entfernten Deauville wurden die unterschiedlichsten D-Day-Motive angeboten, etwa mit Aufmarschplänen einzelner Divisionen und Aufschriften wie „Thank you, America!“.
Den Gegenpol zu diesem dankenden Gedenken bildete die Dokumentarfilm-Sektion des Festivals, die die aktuelle Welle politischer Dokumentationen im Gefolge von Michael Moores Erfolg abschöpfte. Dazu passte eine dem Festival angegliederte Ausstellung im Casino von Deauville, in der die in Miami lebende französische Künstlerin Sophie Petitpas zerrissene und übermalte Amerikafahnen präsentierte. Schon bei „Uncovered: The War on Iraq“ konnte man sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass in erster Linie politische Gründe für die Auswahl sprachen. Der Film, mitfinanziert von der Kerry-nahen Initiative MoveOn.org und dem liberalen Think Tank Center for American Progress, ist nicht mehr als ein verfilmter Internet-Blog: Eine Vielzahl von Politikern und Fachleuten rekapitulieren, wie die Bush-Administration die Welt über die Gründe für den Irakkrieg belogen hat. Für das Fernsehen gäbe „Uncovered“ einen minutiös recherchierten Beitrag ab, aber was soll er auf einem Filmfestival?
Lässt man ästhetische Erwägungen beiseite, so spiegelt er allerdings eine wichtige Entwicklung in den US-Medien: Dass acht der zehn erfolgreichsten Dokumentarfilme aller Zeiten aus den letzten 18 Monaten stammen, von Amerikanern gemacht wurden und alle politische Inhalte haben, hängt auch damit zusammen, dass den Liberalen und Linken die Wege in die amerikanischen Mainstream-Medien weitgehend versperrt sind: Die lokalen Zeitungen werden von konservativen Konzernen beherrscht, das Radio ist in der Hand von einem Rechtsaußen wie Rush Limbaugh, im Fernsehen setzt Rupert Murdochs Fox News die Standards. Die liberale Hälfte der US-Öffentlichkeit dürstet nach alternativen Informationen – und bekommt sie ausgerechnet im Kino.
Um dieses Bedürfnis zu befriedigen, muss man allerdings weder wie „Uncovered“ den TV-Konventionen des gebauten Beitrags folgen, noch der emotionalisierenden Subjektivität eines Michael Moore nacheifern. Das zeigte auf dem Festival „The Corporation“ von Mark Achbar und Bart Simpson. Der zweieinhalbstündige Dokumentarfilm legt das Konzept der Kapitalgesellschaft auf die Couch. Wenn schon in den USA Corporations durch den 14. Verfassungszusatz (der eigentlich die Rechte der befreiten Sklaven sichern sollte) den gleichen rechtlichen Status wie Individuen genießen, dann kann man sie auch wie Menschen (psycho)analysieren. Das war die Ausgangsidee der Filmemacher. Das Ergebnis ihrer filmischen Recherche fällt eindeutig aus: Corporations haben nach FBI-Standards das Persönlichkeitsprofil eines Psychopathen. Sie verhalten sich egozentrisch, verantwortungslos und sind unfähig, Mitgefühl oder Reue zu empfinden. Politisch interessierte Kinogänger werden auch hier viele der präsentierten Fakten bereits kennen, und viele der befragten Aktivisten haben schon in vielen anderen Filmen ihre talking heads ins Bild gehalten (Naomi Klein, Noam Chomski, Michael Moore). Dem Film gelingt es dennoch, durch seinen ungewöhnlichen Ansatz eine eigene Stimme zu finden.
An eine Zeit, in der Kritik am Kapitalismus und der US-Außenpolitik noch schärfer formuliert wurde als heute, erinnert „Guerrilla: The Taking of Patty Hearst“. Der Film folgt der kurzen Geschichte der in den frühen Siebzigerjahren gegründeten linksradikalen Symbionese Liberation Army (SLA) und ihrer spektakulärsten Aktion: der Entführung von Patty Hearst, Enkelin des legendären US-Pressemoguls William Randolph Hearst. „Wir retteten die Welt vor Hitler, und dann dreht man sich um, und plötzlich sind wir Hitler“, sagt einer der ehemaligen Terroristen im Rückblick auf die Zeiten des Vietnamkriegs. In Kindertagen bewunderte er Robin Hood – gewissermaßen in dessen Nachfolge ließ die SLA das Lösegeld für ihr Entführungsopfer in Armenspeisungen auszahlen. Doch zu dieser Zeit hatte sich Hearst – ob aus echter Überzeugung oder als Opfer des Stockholm-Syndroms, bleibt ungewiss – schon zur kommunistischen Revolutionärin bekehren lassen und raubte mit ihren Entführern eine Bank aus.
Solch rabiate Kapitalismuskritik konnte allerdings im exklusiven Deauville, dem Badeort für die feine Pariser Gesellschaft, nur einige versprengte Journalisten zum Kinobesuch bewegen. Der am gleichen Tag durch die örtlichen Nobelboutiquen flanierende Steven Spielberg zog jedenfalls deutlich mehr Zuschauer an.